„Travelling without Moving“

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Da steht es also. Das alte Jahr. Die Lichter an. Fix und fertig, steckesteif. Der letzte Gast an einem langen Abend. Es konnte sich diesmal nicht benehmen. Hat gutes Geschäft kaputtgemacht und zu viele gute Leute gekostet. Frauen, Männer, die mir sehr am Herzen lagen. Verdammt. Hat Wahnsinn mitgebracht, Unruhe, Konfusion und Hysterie in Momenten, wo Bedachtsamkeit wie Augenmaß geholfen hätten und Trägheit und Verhaltensstarre, als Bewegung gefragt war und eine gute Idee, wie es weitergeht.

Leere Gläser stehen noch auf den Tischen und welche mit schaler Plörre. Fleckig, milchig, erschöpft. In Pfützen von Bier, von Schnaps und Wein. Und volle Aschenbecher stinken. „Blue Hour“. Aus den Lautsprechern perlt launiges Piano. Die schwarze Stimme wimmert quälende Sehnsucht: siebzehn Tage, siebzehn Nächte. Hier und heute ist es noch die Eine. Und in der Ecke liegt ein müder, schwarzer Hund.

An der Garderobe neben dem Windfang steht es wacklig, hat schon den Mantel an und greift zum Hut. Hebt die Hand zum letzten Gruß und will durch den dicken Wirtshausfilz hinaus in seine letzte, kalte Nacht. Verschwinden, einfach so. „Hey 2020, willst Du Deine Zeche prellen?“ Das Jahr schüttelt den Kopf. Will mich fixieren, aber die Augen fahren Karussell im vollbetankten Schädel.

„Wir zwei sind noch nicht durch!“, sage ich. Das Jahr zeigt auf sich und über ihm schwebt ein absurdes Fragezeichen aus billigem Pappmaché. Fehlt nur noch, dass es von sich in der dritten Person spricht, wie die alten Häuptlinge in den schlechten Spaghettiwestern, die sie in Kroatien gedreht haben. Weil’s billiger war. Mit Franco Nero. Nein, das ist keiner von diesen klebrigen Kräuterlikören aus dem Mezzogiorno. „Ja klar Du, 2020. Mach jetzt nicht dumm, wer denn sonst? Komm rüber!“ Das Jahr wippt von den Spitzen auf die Absätze und retour, immer wieder, bewegungssteif ausbalancierend, verhaltensstarr wie in Aspik und mustert mich, wenn man das so nennen möchte.

Ich greife hinter mir ins Regal, fasse zwei Stamper und stelle die auf die Theke. „Wir haben noch was offen.“ Nehme den Aalborg aus dem Eis und fülle ölig auf bis über den Strich. Nicht das Jubiläumszeug, sondern den „Taffel Akvavit“. Der passt jetzt. Roh und ehrlich, wie er ist. Die brennende Wahrheit. Und über uns flackert die alte, beleuchtete Weinbrandreklame: „… wenn einem so viel Gutes widerfährt …“. Hohn und Spott!

„Komm her, ich geb’ einen aus, Du Schei*jahr. Auf den allerletzten Meter. Nein Du musst nicht zahlen. Hast mir ja reichlich eingeschenkt, es reicht auch so schon für zehn.“

Die Hände voraus an gestreckten Armen, stolpert es noch ein allerletztes Mal in Richtung Tresen, landet nach einer reichlich unrunden Pirouette an der Reling, packt zu, klammert, steht. Respekt. Das Jahr hebt besoffen sein müdes Haupt und glotzt mich an mit wässrigen Augen aus tiefen Säcken in einem teigigen Gesicht mit einer Haut aus Pergament und friedhofsblonden Stoppeln. Eine Jammergestalt. Beinahe könnte es einem leid tun.

„Du hattest auch Dein Gutes, Jahr. Ich konnte an Dir wachsen. Ließest mich innehalten. Raus aus dem Rennen. Außen- und Innenansichten synchronisieren und neue Perspektiven finden. Bescheidenheit üben, Chancen erkennen. Die Menschen und die Dinge, die mir wirklich wichtig sind. Zeit zum Denken und Bedenken. Auch die eigene Haltung in vielen Fragen. Und zum Aussortieren.

Wenn ich all das in einem Wort greifen sollte, so hieße das Resilienz.“ „Resilwas?" Bäuerchen.

„Resilienz, Idiot! Drum Prost. Hier ist Schluss. Nicht weil morgen alles neu und besser werden will, aber anders. Wir werden uns arrangieren. Da bin ich sicher.“

Die Stamper knallen auf das Resopal. „Und jetzt hau ab. Lass gut sein. Wir machen einen sauberen Schnitt. Es geht auf’s Haus.“ Das alte Jahr torkelt hinaus bei hohem Seegang. Ich blicke ihm kurz nach und beginne aufzuräumen. Ein kurzer, kalter Hauch geht durch den Saal. Die Türschelle geht. Einmal, zweimal. Die Dielen knarzen. Hat das versoffene Ding noch was vergessen? Bitte nicht.

Aber nein, da steht auch schon das Neue: „Habt Ihr schon auf?“ „Schon, noch? Wir haben hier immer auf. Komm mit an den Tresen, ich geb einen aus. Brause Marsch!“

Bruno SchulzComment