"Beas Tante" ("Die Tante", Kapitel 1)

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In den neunzehnhundertachtziger Jahren hatte ich eine jüdische Mitschülerin. Bea war keine sehr enge Freundin und doch verbrachten wir gerne einige Zeit miteinander. Sehr gerne erinnere ich mich auch an ihre Tante. Oder Großtante, so genau weiß ich das nicht mehr. Sie war um einiges älter als die Eltern, jedoch auch erheblich jünger als die noch lebende Großmutter.

Sie hatte schieferfarbene Locken mit weißen Strähnen, ständig dicke Ränder um die tiefschwarzen Augen und rauchte filterlos Kette zum Kaffee von schellackhafter Konsistenz an ihrem Tisch im Wintergarten, den man heute vielleicht mit „shabby-chic“ zu greifen versuchte und seinerzeit vermutlich zwischen Dornröschenschlaf und dem Adjektiv „abgerockt“ hätte einordnen wollen. Der Tisch und die Tante lebten in bewährter Symbiose und ihre seltsam systemübergreifende Einvernehmlichkeit vermochte eine tiefe, unergründliche Würde auszustrahlen.

Tante Elena war ein unerschöpflicher Quell von Witzen, Zoten, Anekdoten und gewährte mir den einen oder anderen Einblick in die wunderbare Welt jüdischen Humors. Nicht diese flachen, zwangsbesinnten Albernheiten, die uns so oft in den gefälligen Hochglanzwellnessfibeln graubärtiger Phantasierabbinern aus Brooklyn sandgestrahlt aufgetischt werden, sondern eher das rauhe, authentische Zeug mit der jahrhundertealten, ashkenasischen DNA aus Schtot und Schtetl. Vielleicht aber auch nur das, was wir dafür halten. Egal. Es wirkt!

Es ist etwa 35 Jahre her, da erzählte Tante Elena mir einen Witz, der bis heute einer meiner absoluten Lieblingswitze bleiben sollte. Darin findet sich ein Streit um den Zeitpunkt, wann Leben entsteht und sie schaffte es, alle drei Buchreligionen in nur wenigen Sätzen auseinander zu nehmen mit einem Notausgang für die jüdische Witwe. Ich werde den Witz hier ganz sicher nicht aufschreiben, weil meine bescheidenen Möglichkeiten bei weitem kaum jemals ausreichen wollen, die Atmosphäre einer gekonnten mündlichen Darbietung mit den passenden Worten an dieser Stelle zu verschriftlichen.

Ich werde den Witz ganz bestimmt auch nicht vorstellen, weil er die sozialen Kanäle heute kaum noch schadlos passieren dürfte, ohne dass man ihn in sinnfrei vorauseilendem Kadavergehorsam als rassistisch kategorisieren und eiligst zurechtstutzen und deformieren würde, ohne sich die Mühe zu machen, zunächst schweigend in die vielschichtige Pointe einsteigen zu wollen. 

Die Deutschen, auch die „guten“, sind vielleicht erfolgreich in Uniformität. Uniformität allerdings ist ganz sicher kaum der ideale Nährboden für das uralte Kulturgut Humor. Das Zauberwort heisst Fingerspitzengefühl, das jeder zu besitzen glaubt und dennoch kaum häufiger anzutreffen ist, als die „Blaue Mauritius“.

Was aus Bea und Elena geworden ist, weiß ich nicht. Unsere Spuren haben sich vor vielleicht 25 Jahren endgültig verloren. Von den Witzen sind mir allerdings einige geblieben. Und manche habe ich wiederentdeckt in dem großartigen Buch des ehemaligen ZEIT-Herausgebers Josef Joffe: „Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß!: Der jüdische Humor als Weisheit, Witz und Waffe“ aus dem Jahr 2015. Eine Empfehlung aus vollem Herzen.

Ein ehrliches, herzhaftes Lachen würde vielen, verkniffenen Zeitgenossen gut bekommen, denen man heute ein Stück Kohle in den Hintern steckt, um in wenigen Minuten mit einem Diamanten bedient zu werden.