Leben und lieben lassen.

Ich habe vor ein paar Tagen bei Palais Fluxx die Kritik von Silke Burmester zum „Oho“-Film „Meine Stunden mit Leo“ gelesen und ich war zugegebenermaßen ziemlich erstaunt. Warum sich beispielsweise die Existenzfrage einer postklimakterischen Person jenseits der Sechzig, Frau oder Mann wäre mir dabei gleich, scheinbar exklusiv darauf zuzu“spitz“en scheint, sexuell noch und immer begehrenswert zu sein. „F*ckable“ im zeitkonformen terminus technicus.

Selbst schon fast 60, habe ich vielleicht einen etwas entspannteren Zugang dazu und kenne mindestens zwei Dutzend halbwegs gleichrangige Interessen und ich zweifle keine Sekunde daran, dass es FreundInnen und BekanntInnen ganz ähnlich geht. Wahrscheinlich ist diese filmmärchenhafte Aufsicht auf das Thema ja auch eigentlich vorverlagert auf Frauen, also ein Publikum von allerhöchstens fünfzig oder fünfundfünfzig Jahren, das sich unnötigerweise selbst auf der Zielgeraden wähnt und ängstlich heilvolle Perspektiven sucht, die ihnen im Kino nun präsentiert zu werden scheinen. Immerhin ist die Hauptdarstellerin ja selbst schon dreiundsechzig Jahre alt, auch wenn eine topkonservierte Emma Thompson nun wirklich kaum das ästhetische Mittel ihrer Alterskohorte beschriebe.

Mein eigentlicher Kommentar unter dem Ausgangsbeitrag bezog sich aber gar nicht nur auf die reichlich eindimensionale, hitzigfeuchte Lebenssinnfrage, die mir später als Metapher und eine Art erotische Aufräumaktion à la Marie Kondō verhökert werden wollte mit dem Charme von Aufbruch und Morgenluft, was meine These vom Prinzip Hoffnung für die Zukunft nur noch untermauerte. Übrigens: nicht alles was anal daherkommt, ist auch Analogie.

Burmester ist fasziniert von „der Befreiungsgeschichte einer Frau in einem Alter, für das die Gesellschaft wenig Spiel- und Aktionsraum vorgesehen hat.“ Gilt das nicht für alle Menschen? Leute wie Roberto Cavalli, Gunter Sachs, Flavio Briatore, Jürgen Drews oder der kürzlich verschiedene Rolf Eden wurden und werden für ihre jungen Gespielinnen regelmäßig verhöhnt, obwohl das nicht einmal Prostituierte sind oder waren, jedenfalls nicht nach klassischer Lesart. Die findet die Gesellschaft „eklig bah“, weil alte Männer gefälligst keinen Spaß mehr haben sollen, was immer diese Gesellschaft für “Spaß“ zu halten scheint. Der einhellige Punkt der Diskutantchen jedenfalls lautet: „die 'Cavallis' gibt es viel mehr und schon ganz lange - jetzt sind wir mal dran.“ Aha, daher weht also der Wind? In dieser Aussage steckt viel mehr Information, als ich an marianengrabentiefem Abgrund zu erwarten befürchtete. Ich denke ja oft, lasst die Menschen doch endlich alle machen was sie wollen, solange dabei niemand zu Schaden kommt. Männlich, weiblich, divers, Wurscht. Schon um meiner selbst willen.

Eine besonders lebhafte Kontrahentin und befreundete Kollegin der Autorin wollte mir, aus Kadaverloyalität, oder vermutlich eher persönlich beleidigt ob meiner Einwände, schnappreflexend noch ein paar stereotype Phantasien reinreiben von ältlichen Kerlen, die sich von jungen Dingern vermöbeln lassen, um damit, mich diskreditierend, nur den Schuhkarton ihres eigenen gedanklichen Universums auszuleuchten in Maximalgröße 35.

Viel interessanter fand ich noch die Reaktion auf meinen Hinweis, wie sehr es mich erstaune, dass dieselben Akademikerinnen, die eben noch und zurecht das skandinavische Modell im Umgang mit der Prostitution einforderten, jetzt mit wohligem Kribbeln, Gänsehaut, Freundinnen und Sektchen im Kino sitzen, um einem deutlich jüngeren, farbigen Callboy dabei zuzusehen, wie er entgeltlich ihre angegraute Ikone befingert und aus ihrem banalen braunen Trudchenkostüm in eine emotionale Stratosphäre katapultiert, um Brigitte Mustermann auf diese Reise zu den Sternen mitzunehmen: "That's one small step for Emma, one giant leap for mankind."

Den „farbigen“ Callboy habe ich als ebensolchen dabei nur kurz tangiert, um nicht auch noch den Dünkel rassistischer, postkolonialer Modelle zu hinterfragen und die grunzenden Phantasien von den schwarzen Liebhabern und ihren anatomischen Besonderheiten. Ist das eigentlich schon 'cultural appropriation', wenn sich Mutti das erotische Erbe der infamen internationalen Ausbeutungspolitik ihrer Vorväter reinzieht?

Und schafften die vorgeblich liberalen, weltoffenen Cineastinnen ihre romantischen Projektionen tatsächlich nicht, wenn die abenteuerlustige Seniorin eine farbige Frau oder Muslimin wäre und ihr Liebhaber ein skandinavischer Abiturient, der sich ein bisschen Taschengeld dazuverdienen möchte? Oder eine körperlich Eingeschränkte mit einem Transmenschen als Verehrer. Oder Olivia Jones mit einem Debüttanten egal welcher Provinienz? Da wären doch sicher noch jede Menge anderer Spielarten aus dem woken Fintagarten denkbar gewesen. Oder hört der Spaß nur wirklich da auf, wo das Recht auf subjektive Unterhaltung beginnt?

Eine warf noch ein: „Pretty Woman!“ „Ja? Und?“ Warum nicht gleich „Earl Grey … ach nee, Shades of Grey“. Grauenhafte Schmierentheater für die Kellerinstinkte. Was will sie mir bloß damit sagen? Dass es schon immer schlichte Filme gab und dass sich letztlich alle erfolgreichen Narrative auf ein sehr knappes Stück DNA zurückwerfen lassen? Aufgeblasen durch die Mechanik der Allzweckwaffe 'Heldenreise'? Warum? Wir Menschen sind halt so.

Muss man sich wirklich ein Alibi pseudointellektuell zurechtbiegen als Advokat der eigenen Sehnsüchte? Ach Quark. Schaut euch alle eure müden Märchen ruhig an, so wie ich selbst auch die meinen, aber bitte verkauft uns das nicht als überraschende, identitätsstiftende Gesellschaftsstudie von Ewigkeitswert. Danke.

Nachtrag: Ich habe den Film übrigens selbst nicht gesehen. Muss ich auch nicht. Nach dieser Kritik.

Bruno SchulzComment