den eigenen Maßstab verlieren.

Weltmacht mit drei Buchstaben: ICH!

Hannes Roß schreibt für den Stern. Darin beklagte er kürzlich den Verlust seiner Idole, aber nicht seiner Ideale und erliegt einigen Missverständnissen: Comedy will nicht so, wie er will. Und nicht nur die. Ja, ist das denn zu fassen? Er reagiert patzig.

Roß erlebt, was in den besten Familien, Beziehungen, Ehen und auch unter alten Freunden vorkommt: man hat sich auseinandergelebt. Unterschiedlich entwickelt. Das tut mir leid. Wirklich neu ist es aber nicht. In den Familien und mit den Freunden hat man sich zumindest früher noch manchmal zusammenraufen können, Weihnachten, Omas Geburtstag, die Stimme des Blutes, Hochzeiten und der Todesfall. Irgendwie gehts dann doch weiter und man findet vielleicht wieder zusammen. Oder eben nicht. So what? Die Welt ist groß und alt und müde und es ist ihr egal. Man muss ja nicht gleich miteinander das Lager teilen. Geschichte.

Wir erlebten das Dahinsiechen jeder Ambiguitätstoleranz im Zeitraffer. Ambiguitätstoleranz? Watt datt denn? Das war mal die schöne Begabung, mehrdeutige Situationen und widersprüchliche Handlungsweisen auszuhalten, persönliche Diffamierungs- und Geschmacksgrenzen, ohne gleich an die Decke zu gehen. Grundvoraussetzung zum Funktionieren einer jeden pluralistischen Idee. Wie der Demokratie. Zum Beispiel. Menschen mit dieser Begabung können Widersprüchlichkeiten aushalten, kulturell bedingte Unterschiede oder mehrdeutige Informationen, die mitunter kaum verständlich sind oder sogar inakzeptabel erscheinen mögen. Sie verhalten sich dafür nicht ständig aggressiv und rechthaberisch. Kennen mehr als Null und Eins, lehnen weder augenblicklich alles ab, noch bejahen sie bedingungslos. Sie bleiben diskussionsbereit, sind im besten Sinne kritisch, ohne dabei ihre Individualität aufzugeben. Solche Leute kommen aus der Mode. Leider.

Chapelle und Gervais sind Weltbürger, Roß ist in Hamburg geboren, hat da die Schule besucht, studiert und sein Auskommen gefunden. Hamburg ist das Tor zu Welt. Zumindest für die Hamburger. Und die AIDA-Fahrer. Hamburg ist ein Mikrokosmos. Aus Meinungsblasen. Und in einer davon lebt Hannes Roß. Der ist in seiner Echokammer in ein Weltenbild hineingewachsen, dass ich in großen Stücken inhaltlich gerne teile, was unserer ähnlichen Sozialisierung geschuldet sein könnte. Ist es deswegen universal? Vermutlich nicht.

Geo- und egozentrierte Weltenbilder sind überkommen. Dachte ich. Bislang. Irgendwie. Besser, man lernt sich zu arrangieren und bemüht sich, die Dinge sukzessive zu verändern, statt stets pampig und rechthaberisch Konfrontation zu suchen. Jeder, der mit Geschwistern aufgewachsen ist ahnt, was ich meine.

Man muss nicht niedlich aufstampfen und ein Protestbäuerchen ventillieren, nur weil nicht alle nach der Pfeife der verinnerlichten Agenda der eigenen Konturkohorte tanzen. Man muss nicht jeden gleich torten aus bewusster Fehlinterpretation, und jede Gelegenheit wahrnehmen, die eigene Rechtschaffenheit, dem Kanal sei Dank, möglichst reichweitenstark prominenzbefeuert zu exponieren.

Niemand kann den Schreihals leiden, der auf Kindergeburtstagen bestimmen will, was gespielt wird, nur weil er stets am lautesten heult. Ok, der kann sich oft genug für den Moment durchsetzen, des lieben Friedens willen. Die anderen werden mit Süßigkeiten belohnt oder sediert oder beides, wir kennen das. Alltag. Macht das den Schreihals zum kompetenten Meinungs- und Haltungsbildner? Eher nicht. Da könnte er dreimal Recht haben in der Sache.

Und dass Roß seine einstigen Idole coram publico schleift, macht ihn nicht gerade sympathischer. Die werden trendy „genuhrt“ und „geboomert“. Reflexstigmatisiert mit den NoGo-Codes der eigenen „Volkstanztruppe“, für deren zärtliches Lob und den kuscheligen Schulterschluss in kalten Zeiten wie diesen. Roß ist Jahrgang '75. Chapelle '73. Die Boomerjahrgänge enden '64. Zumindest aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Aber die zählt nicht mehr im Marktschreierwettbewerb quälend selbstgerechter Lauterkeit.

Nicht alles, was nicht aus einem Hamburger (oder Berliner) Quartier und dem eigenen gentrifizierten Kiez stammt, ist vollautomatisch eine unterdrückte Minderheit. Wahrscheinlich gibt es mehr Chinesen in der Welt, als St. Paulianer. Und in China mehr Pädophile, als Menschen, die im Karolinenviertel hausen. Vermutlich gibt es auch noch immer mehr Leute in China, die Hundefleisch essen, als im Roßschen Kiez den fairen Sojalattemacchiato nuckeln. Die monierte Pointe könnte man also vielleicht doch bringen. Ob sie geschmackvoll ist, steht auf einem ganz anderen Blatt, nach dem wir beide glücklicherweise nicht zu richten haben. Meine Limits liegen da ohnehin weiter draussen. Erheblich. Habe ich deswegen Recht? Keine Ahnung. Weil ich Boomer bin, muss ich die Welt beleidigen? Nö, ich habe sie lieber bereist, um festzustellen, dass wir uns nicht erst zum Schluss viel ähnlicher sind, als die meisten annehmen mögen. Solange wir uns nicht im Gruppenzwang jeder Stallorder unterwerfen lassen und in jede unheilvolle Gruppendynamik eintauchen. Und ständig alle belehren wollen. Heraus aus unserem lächerlichen Schrebergarten.

Mir fällt im Kontext eine Zote ein, für die ich kürzlich „Prügel“ bezogen habe: >> Ein Lehrer betritt den Raum einer fünften Klasse in einem Kleinstadtgymnasium: „Sexualkunde. Liebe Kinder, heute lernt Ihr, wie man verhütet. Dazu habe ich ein Kondom mitgebracht und eine Banane … ich bekomme nämlich einfach keine Errektion, wenn ich nichts gegessen habe“. Ok, Pause und Timing sind für die Pointe von Bedeutung. Witzig? Ganz sicher nicht für jedermann. Falsch und inakzeptabel? Vermutlich auch nicht. Nervig? Auf jeden Fall. Darum geht es ja. Ist darum jeder Kleinstadtpauker potenzieller Pädokrimineller? Ich hoffe nicht. Wäre es auszuschließen, weil ich nicht darüber spreche? Vermutlich ebenso wenig. Wir kennen die Mechanik von der Kölner Domplatte. Nur war es da viel weniger lustig.

Gelassenheit. Mehr Gelassenheit, ja, das wäre schön.

Bruno SchulzComment