"Schatzinseln"

Man muss nicht immer in die Südsee segeln, um einen Schatz zu heben. Zu der Insel mit den Kokosnusspalmen, dem endlosen Sandstrand und der angezündelten Karte mit den Kreuzen und dem eingestrichelten Fußpfad zwischen Totenkopffelsen und dem haiverseuchten Riff. Pflicht sind weder Holzbein, Augenklappe, Hakenhand, Skorbut noch Meuterei oder gar die Bounty.

Manchmal reicht der Weg in die Nachbarschaftskneipe zur mittäglichen Speisung. Wenn man die Augen und die Ohren offenhält und bereit bleibt, das wahrhaft Wertvolle in der Welt auf- und anzunehmen.

Ich mag die gelassene Atmosphäre im „Käuzchen". Das ist ein alteingesessenes Bistro in der Altstadt von Bad Kreuznach, die hier exotischerweise „historische Neustadt“ heißt. Dazu demnächst mehr. Und damit hört die Exotik auch schon wieder auf. Die Wirtsleute Rita​ und Bernd sind bodenständig. So wie die Karte und das Publikum. Viele gehören zum Inventar. Und das nicht erst seit gestern.

Die Linsensuppe mit Essig, Wurst und Butterbrot. Eine Schorle dazu oder ein bleifreies Bier. In der Mittagspause. Der Tag ist noch lang. Der Steffen​ und ich tauchen unsere Löffel in das seelig, satt dampfende Geheimnis. Das kleine Mittagsglück. Am liebsten in der Sonne.

Der Nachbartisch wird soeben zeitgemäß digitalisiert. Zwei Achtzigjährige pflegen ihren Erfahrungsaustausch zu den neu angeschafften Kameras. Einer der beiden rüstigen Senioren dokumentiert seine Erlebnisse in der Menüführung auf dem topmodernen Display: „Stell Dir vor. Ich gehe die Grundeinstellungen durch, passe alles auf mich an. Datum, Uhrzeit. Plötzlich steht da „Leguan“. Was soll das? Das ist doch eine Kamera und kein Terrarium.“ Er sitzt kerzengerade mit offenen Augen und offenem Mund. Pause. Sein Gegenüber steigt darauf ein: „Leguan? Das heißt Language, Du Idiot!“ „Ach.“ Wie wunderbar, das war keine Beleidigung und es folgt auch kein Eingeschnapptsein. Beide haben glühende Wangen vor Begeisterung im Thema und der rüstige „Reptilienfreund“ tippt schon wieder auf dem elektronischen Gerät, sachkundig begleitet von seinem besten Freund. Und das seit bald 60 Jahren, wie ich von der Wirtin erfahre. Großartig. Besondere Minuten. Das ist viel mehr als stimmige Chemie und man spürt den besonderen Moment, den Schatz im Alltag, der einem vorführt, worauf man besser achtgeben sollte. Und das immer wieder.

Alfons der Weise war König von Kastilien und León. Er starb 1284 im seinerzeit sagenhaften Alter von 63 Jahren, was mit heutigen Verhältnissen kaum verglichen werden darf. Kurz vor seinem Ableben notierte er erfahrungsreich die wesentlichen Eckpunkte eines zufriedenen Daseins:

„Vier gute Dinge sind auf der Welt:
altes Holz, um Feuer zu machen,
alter Wein, um ihn am Feuer zu trinken,
alte Bücher, um darin zu lesen,
und alte Freunde, um ihnen zu vertrauen.“

Dem kann ich mich nur anschließen. Mit zwei oder drei Ergänzungen. Vielleicht.

© Mai 2017

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Bruno SchulzComment