"Speckfilmspaghetti"

Am Eiermarkt

Heute sitze ich schirmbeschattet und palmengesäumt auf einem schmucken, kleinen Platz eines rheinlandpfälzischen Mittelzentrums, dessen Altstadt hier Neustadt heißt. Das Paradoxon leitet ganz wunderbar ein zur Widersprüchlichkeit von Ort und Situation und vielem mehr. Der historische Eiermarkt, so heißt die quadratische Fläche, brandet mit französisch anmutendem Charme an 3 Seiten an Barockfachwerk und auf der Vierten an die katholische Kirche St. Nikolaus. Die war mal Klosterkapelle des Karmeliterordens und wurde Ende des 13. Jahrhunderts zur Kirche umgebaut, gemäß den Erfordernissen der Bettelordensarchitektur. Der Turm entstand erst um 19hundert. Heute ist das ganze eine halbwegs harmonische Collage mit schönen Fenstern des Frankfurter Glasmalers Alexander Linnemann.

In der Mitte des Eiermarktes steht ein Denkmal zu Ehren des Metzgermeisters Michel Mort. Der Lokalheld hatte im Jahr 1279 in der Schlacht von Sprendlingen gegen die Truppen des Mainzer Erzbischofs erfolgreich Freiheit und Leben verteidigt. Seine steingewordene Heldenpose von Ewigkeitswert haben wir einem Sproß der legendären Bildhauerdynastie Cauer zu verdanken. Stanislaus in diesem Fall. Ende 19. Jahrhundert. Alles trieft und tropft vor kleinaltstädtischer Bedeutsamkeit und typische Fremdenführer würden das Ensemble wohl als „Herz vom sonst“ präsentieren.

Zwei gastronomische Betriebe und ein Hotel beleben die Fläche im Niederpulsbereich. Der Italiener linkerhand stellt sich als Sarde vor. Er ist schon lange hier zuhause und kochen kann er auch. Sein „Dolce Vita“ ist seit vielen Jahren meine Mensa und versorgt mich mit dem Notwendigsten zur Systemerhaltung. Heute sind das wie so oft und immer wieder gerne: Spaghetti „aglio e olio e peperoncini“. Mein Freund und Geschäftspartner Markus würde sie als waschechte Lebensretter bezeichnen. Und das stimmt. Gerne nehme ich als Vorspeise ein bisschen Grün. Darauf ein frisches Zitrusdressing. Das schmeckt mir. Schlicht und schön. Und es passt zum späten Sommer, der sich zur Mittagszeit noch reichlich kraftstrotzend vorstellt.

Als die Pasta den Tisch erreicht, öffnet sich ein Fenster in unmittelbarer Nachbarschaft und wie von einem Maestro von Weltformat mit wilder Geste und wirrem Haar auf den Punkt inszeniert, setzt zwar keine Streichergruppe ein, dafür aber ein umso lautstärkeres Pornogrunzen. Hier genießt ein Schwerhöriger seinen mittäglichen, autoerotischen Höhepunkthelfer. Er lässt sich auch durch lautes Rufen nicht beirren und setzt klar seine privaten Prioritäten. Glückwunsch. Stellt sich die Frage, ob tatsächlich überall Stroh liegt.

Die kulinarische Freude an den knofelolivenöligen Teigwaren bleibt verhalten, wenn sie durch ein aufgeheiztes „leck mich, leck mich, Du Sau“ konterkariert wird. Der Espresso wird untermalt von einem gehechelten Betteln um Analverkehr. Hm.

Ein paar Gäste finden das halblustig, der Wirt beschämend. Zumindest stellt er das immer wieder ganz erfolgreich dar.

Auch das ist der Eiermarkt. Sowas passiert, wenn die Stadtplanung ihre Kronjuwelen aufgibt, runterkommen lässt und nur noch die Besonderen dort in Miete bringt, wo das vorgebliche Herz geschlagen hat und auch heute noch schlagen könnte. Die goldenen Jahre sind noch gar nicht so lange vorbei. Mit Festen, Konzerten, buntem Leben. Ein Niedergang, den viele kleine Städte zu beklagen haben. Sie verlieren ihr Gesicht. Warum muss das sein? Ich finde das schade.

© 2017 Bruno Schulz

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