Klassentreffen.

Michael Nast (michaelnast.com) hat in seinen Großstadtkolumnen ein Klassentreffen auseinandergenommen. Er ist Jahrgang 1975 und damit 10 Jahre jünger als ich. Seine Abrechnung war verständlich, der Schulfreund als Sprachrohr geschickt gewählt und ich kommentierte den Beitrag mit dem Hinweis auf eine eigene Erfahrung zu diesem Thema. Mich interessierte die Veränderung der Perspektive. Die Sicht auf die Dinge und ob vielleicht noch etwas anderes übrigbleiben kann als Melancholie, Bitterkeit oder Verdrängung.

Ein Anruf zu normaler Tageszeit. Es hätte ein Kunde sein können. Ein Geschäftspartner, ein Freund. Vielleicht auch die Mutter, ein Abodrücker oder ein Meinungsforschungsinstitut. Und doch klingt das Telefon anders. Ist es die vermeintliche, kurze dramaturgische Pause vorab? Ein unbewußtes Stilmittel? Timing? Wie bei Naturkatastrophen oder Hitchcock-Filmen? Ich nehme den Hörer ans Ohr. Pause. Versuche ins Telefon hineiunzuhorchen. Herauszuhorchen, was es ist, wer es ist und warum? Pause. Auf der Gegenseite tut sich jemand schwer. "Hallo?" "Ja Hallo …" "Bruno Schulz." Pause. Und trotzdem transportiert das Telefon mehr als Stille. Alle Sinne auf Empfang. Feinstdosiert. "Hier ist M." "M.?" "Lange nichts gehört von Dir …" "Das kann man wohl sagen: etwa … lass mich rechnen … 1985 … 26 Jahre sind das. Seit dem Tag der mündlichen Abiturprüfung, um es genau zu nehmen." "Das ist lang." "Naja, erdgeschichtlich vielleicht nicht, aber verteilt auf mein Alter …" Pause. "Bruno, ein paar Leute aus unserem Jahrgang wollen sich treffen." Der Film läuft bereits. Unser Jahrgang. Ein paar Gesichter sind noch präsent. Echte Freundschaften? Eher nicht. Hm. "Bruno, hättest Du Interesse?" "Ja." Pause. Ich wundere mich über mich selbst. Das war ein schnelles "Ja". "Es werden aber nicht viele Leute da sein." "Das denke ich mir." "Wir treffen uns in W. Tennisclubheim. Freitag in 4 Wochen, 19 Uhr. Willst Du wissen, wer zugesagt hat?" "Nein, das ist mir egal." Eigentlich sind mir alle gleich wichtig oder unwichtig. "Ich komme. Wir sehen uns." Ich lege auf. Suche mir online ein Hotelzimmer. Nicht weit. Eigentlich könnte ich abends noch heimfahren. Aber wahrscheinlich muss ich etwas trinken, um das Elend zu ertragen. Und vielleicht ja auch nicht. Und vielleicht wird es lustig. Im Grunde sind es lauter Fremde. Verschiedene Lebensmodelle von Menschen in meinem Alter Mitte Vierzig. Und wenn es gar zu blöd wird, ist es ein Freitag Abend in W. Ich tauche ein in die Nacht und stromere ein bisschen durch die Stadt. Sehr verlockend aus der Perspektive meiner selbstgewählten Diaspora. Es kann also nicht wirklich schiefgehen. Bingo.

Der Tennisclub hat seine besten Zeiten gesehen. Die Restauration ist bieder, aber immerhin hell und lichtdurchflutet. Das ist nicht selbstverständlich. Ich bin als Erster da, ein paar Minuten zu früh. Egal. Das Auto steht in der nahen Hoteltiefgarage, das Zimmer ist bezogen und die Innenstadt in etwa um die Ecke. Ich habe mir eine Flasche knallkalten Robert-Weil-Riesling bestellt, halbstarkes Mineralwasser und 2 oder 3 kleine Vorspeisen. Und jetzt bin ich doch neugierig.

Um es kurz zu machen: ab hier habe ich den Text ein paarmal umgeschrieben. Im ersten Durchlauf lief es zu selbstverständlich. Ein paar Schenkelklopfer und flache, zynische Witzchen. Verbittert. Überheblich. Nicht gut. Im zweiten Anlauf wurde es dann zu analytisch. Der Dritte war sehr persönlich, rückblickend überhöht und der Sache unangemessen. Daher habe ich beschlossen, nicht über meine ehemaligen Mitschüler herzuziehen. Ich werde mich nicht lustig machen über ihre Ess- und Trinkgewohnheiten. Auch nicht über ihr zu kleines oder viel zu großes Leben. Nicht über Ihre Ticks und ob sie zu viel zeigen oder zu wenig. Sich über die einen zu stellen, bedeutet sich an anderer Stelle einzuordnen. Dazu fehlt mir nach 26 Jahren die Skala. Alle waren mir fremd. Nicht unsympathisch, aber fremd. Es gab auch echte Überraschungen. Aber diese Überraschungen waren ohne Bedeutung für mich, weil es in der weiteren Entwicklung kaum neue Einblicke geben würde. Warum auch. Lebt also wohl. Ihr macht es auch nicht besser oder schlechter.

Ein erhebender Moment war schließlich der Ayala Champagner in der Bar gegenüber meines Hotels und das Nachhängen und Reflektieren an der Theke. Und das Friedenschließen! Ein Schritt und kein Schlechter. Vor 10 Jahren hätte ich das nicht gekonnt. Manche Dinge sind gut wie sie sind ...

Bruno SchulzComment