01: "Die Erbschaft"

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Ich habe ein Haus geerbt. Plötzlich und unerwartet. Es steht in der Nähe der Hamburger Hafenstraße. Im Erdgeschoß befindet sich ein verlassenes Lokal im Dornröschenschlaf. Nahezu vollständig, mit einer jener wunderbaren Theken in Schleiflack. Darauf stehen ein paar alte Schnapsflachen, manche offen, alle vergilbt. Und auf Steuerbord eine Wurlitzer. Ob die noch geht? Keine Ahnung. Die Fenster sind zugenagelt, doch Leonard Cohen hatte wie immer recht, als er meinte: “There is a crack in everything, that’s how the light gets in”. Müdes Laternenlicht kämpft sich durch und vermag doch Bilder entstehen zu lassen. Projektionen. Letzte Runde. Auf allem liegt der Staub von Generationen.

Im ersten Stock befinden sich die Vereinsräume einer Interessengemeinschaft alter, verlassener oder verwitweter Süditalienerinnen in Not und in schwarzen Fledermauskostümen. Sie alle haben kaum das Brot über Nacht und befürchten, ich könne sie jetzt vor die Tür setzen. Ich. Eine wird flankiert durch ihre sehr schlichten Söhne. Paolo und Paolo. Der Knaben Vater hatte sie der Einfachheit halber gleich beide nach seinem bereits in den kargen Jugendjahren in Kalabrien verstorbenen Bruder benannt, dessen Schwester sie ihm später gebar. Laetizia war so etwas wie die Vereinspräsidentin und meinte, ich solle die Mutter nicht unbedingt und schon gar nicht direkt darauf ansprechen. Daran halte ich mich. Ist wohl besser so.

Wir sitzen zusammen und lernen uns kennen. Trinken einen Caffè corretto alla Sambuca aus der eingebrannten Macchinetta, die auf dem alten Gasherd mühsam vor sich hinröchelt. Es ist klamm, die Heizung funktioniert seit Monaten nicht. „Wo übernachtest Du, Bruno?“ „Bei einem Freund in der Otzenstraße. Nicht weit, nur ein paar hundert Meter. Ich komme morgen abend wieder, dann sprechen wir. Und nein, ich schmeisse Euch nicht raus. Ehrenwort.“

Bruno SchulzComment