Beaufort und ich

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Sir Francis Beaufort wurde am 7. Mai 1774 in Navan geboren. Das gehört zum County Meath und liegt im heutigen Irland. Bevor er nach stattlichen dreiundachtzig Jahren im Jahr 1857 im englischen Hove in Sussex für immer die Augen schloss, verantwortete er als Hydrograf der britischen Admiralität die sogenannten „Admiralty Charts“, die seinerzeit als die allerbesten Seekarten der Welt galten.

Seine Beteiligung an der Entwicklung der nach ihm benannten Windskala geriet zwar eher peripher, was als Detail hier aber nur wenig zur Sache beiträgt. Wer mehr dazu erfahren möchte, findet alles im digitalen Archiv der Royal Society zu London, die leicht zu googlen ist und einen schier unerschöpflichen Fundus in den bizarrsten Sujets bietet.

Die Beaufortskala also ist eine Maßeinteilung zur Kategorisierung von Windstärken in ehedem dreizehn und heute achtzehn Stärkenbereiche, beginnend bei Null für Windstille und Siebzehn für die sprichwörtliche Apokalypse.

Die Skala beruht übrigens ursprünglich nicht auf exakten Messungen, sondern Auswirkungsbeobachtungen, wozu bis heute Tabellen mit den jeweiligen phänomenologischen Kriterien existieren, die geordnet sind nach den Bezeichnungen von Windstärke und des Seegangs oder auch „Windsee“ und den Beschreibungen der Auswirkungen zu Land und auf See. Inzwischen gibt es ein rechenbares Verhältnis zu den tatsächlichen Windgeschwindigkeiten.

Heute erleben wir in der winzigen Ortschaft Grønhøj an der Jammerbucht am Rande des dänischen Nordjütland, aber mitten im dänischen Hochsommer beherzte acht Beaufort und in Spitzen noch darüber, wie es immer so schön heisst.

In der Tabelle liest sich das als „stürmischer Wind“ bei „mäßig hoher See“, zu Land: „große Bäume werden bewegt, Fensterläden werden geöffnet, Zweige brechen von Bäumen, beim Gehen erhebliche Behinderung“ und auf hoher See: „ziemlich hohe Wellenberge, deren Köpfe verweht werden, überall Schaumstreifen“.

Der Regen klatscht wie aus Eimern an das grasbedachte Ferienhaus, das sich tapfer in die Dünen duckt. Darin bollert ein Holzofen gemütlich vor sich hin wie eine alte Dampflok. Ein Buch in der Hand, frischer Kaffee auf dem Tisch, Gebäck, der Bassethound schnarcht auf seinem Fell: genau das ist dieses Hygge, für das alle Welt zertifizierte Trainer für ihre merkwürdigen Coachings mit absurden Gebühren vergolden will und das hier einfach so und selbstverständlich ist.

Draussen, am leergefegten Strand entwickelt sich ab etwa acht Beaufort bei allen halbwegs empfindsamen und noch nicht völlig abgestumpften Zeitgenossen eine vage Vorstellung von Demut. Die freie Bewegung wird zur Herausforderung und das eigene Getöse vom Sturm gnadenlos niedergebrüllt, man steht vor einer Ehrfurcht einflößenden Brandung und wird zurückgeworfen auf den eigenen, übersichtlichen Maßstab zur Natur und der Welt an sich.

Das macht klein und groß zugleich. Zügelt das Ego und schafft Volumen für Gefühle, Gedanken und Erinnerungen, die im Alltag leider zu oft auf der Strecke bleiben, denen von Zeit zu Zeit nachzuspüren sich allerdings unbedingt lohnt. Schnickschnack aus, Besinnung an und diesen besonderen Augenblick innehalten.

Das war kein leichtes Jahr. Geschäftlich? Persönlich? Ich sehe das wie Michael Corleone, der seinen Bruder Fredo im ersten Sequel von Francis Ford Coppolas „Godfather“ darüber in Kenntnis setzte, es grundsätzlich persönlich zu nehmen.

Erst kam Corona und wir hatten unser Geschäft zu retten. Dann starb mein bester Freund, zuletzt mein Vater. Und dann war alle Luft raus. Ich nenne es Phantomschmerzen, wenn etwa das Telefon klingelt und ich mir vorstelle, einer von beiden wäre noch einmal dran. „Ey Bruno“, „Hallo Bruno“, es gibt immer noch etwas zu sagen, zu fragen, gemeinsam zu bedenken.

Ich finde meinen Frieden hier im Sturm am Strand, der uns über viele Jahrzehnte verband. Alle drei. Hier fanden wir immer wieder zusammen und hier schließt sich unser Kreis.

Was ich dabei fühle? Null bis siebzehn Beaufort in einem einzigen Augenblick. Ich atme tief ein. Die feuchte, salzige Luft, den Sturm, das Licht. Und es ist gut. Mit uns, mit mir und der Welt.

Bruno SchulzComment