Blödheit ist keine Meinung!

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Nach „Anne Frank“ in Karlsruhe musste jetzt also auch „Sophie Scholl“ in Hannover dran glauben. Welche Widerstandsikone wird für den nächsten surrealen Wahnvergleich missbraucht? Ein „Dietrich Bonhoeffer“ vielleicht? Oder ist der dem Pseudowiderstandsprekariat als lutherischer Theologe doch zu weit ab vom Schuss, den die Wahnwichtel schon lange nicht mehr hören wollen oder können. Plakativer als in Kassler-Janas Logorrhoe kann man Ignoranz, Bildungsferne, Empathielosigkeit und Manierenfreiheit kaum vortragen. Die Schere ist gewaltig und aus der schmerzhaften Geschichtsverdrossenheit brüllt nichts als pathologische Verblödung.

„Jana aus Kassel“ gibt laut diversen Medien vor, Studentin zu sein. Der Begriff Student und das Verhältnis Student zu Hochschulstudium ist inzwischen offenkundig allzu dehnbar und sollte es sich bei Jana tatsächlich so verhalten, wäre dies eine monströse Auszeichnung der Erosion des deutschen Bildungssystems. Eine ausgesprochene Hochschulreife ist unter dem coram publico abgelegten Testat historischer Zusammenhänge kaum zu halten. Wenn Politiker ihre Promotionen wegen Abschreibens und mangelhaften Umgangs mit Quellen zu recht aberkannt bekommen, sollte Janas Auftritt für eine Rolle rückwärts in die frühen Klassen einer Volksschule reichen. Wer sich selbst so exponiert, findet zu recht auf immer einen Platz auf dem Siegerpodest des YouTube-Panoptikums der Schande.

Nach einer aktuellen Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig glauben etwa 38 Prozent der Bevölkerung, es gebe „geheime Organisationen, die großen Einfluss auf politische Entscheidungen haben“. Und nach Meinung von 33,4 Prozent sollen „Politiker und andere Führungspersönlichkeiten nur Marionetten der dahinterstehenden Mächte“ sein.

Das klingt schon ganz anders als die premiummedial sorglos verbreiteten Kennzahlen zur Querdenkerfront im einstelligen Prozentbereich und es hat auch absolut nichts mit stumpfsinniger Empörung zu tun, solche Tendenzen als besorgniserregend aufzufassen und auszurufen.

Wir alle kennen das falsche Voltaire-Zitat: "Du bist anderer Meinung als ich und ich werde Dein Recht dazu bis in den Tod verteidigen“, das regelmäßig in den Sozialen Medien bemüht wird, um missverstandene Toleranz auszuweisen. Natürlich ist jedes Bekenntnis zum Pluralismus grundsätzlich begrüßenswert. Nur sollte man „Meinung“ und „Befindlichkeitsstörung“ auseinanderzuhalten bereit sein. Zügig diagnostiziert, erfordert letztere eher Behandlung als Schutz.

Kleine Anekdote am Rande: übrigens hat es Voltaire weniger dramatisch, dafür aber etwas komplizierter ausgedrückt: "Le droit de dire et d’imprimer ce que nous pensons est le droit de tout homme libre, dont on ne saurait le priver sans exercer la tyrannie la plus odieuse. Ce privilège nous est ... essentiel ... ; et il serait déplaisant que ceux en qui réside la souveraineté ne pussent pas dire leur avis par écrit." (aus: „Questions sur les miracles“); zu Deutsch: „Das Recht zu sagen und zu drucken, was wir denken, ist eines jeden freien Menschen Recht, welches man ihm nicht nehmen könnte, ohne die widerwärtigste Tyrannei auszuüben. Dieses Vorrecht kommt uns von Grund auf zu; und es wäre abscheulich, dass jene, bei denen die Souveränität liegt, ihre Meinung nicht schriftlich sagen dürften.“

Hallo! Meinung! Nicht Blähung!

Interessanterweise bauen die meisten medialen Beiträge zur rhetorischen Entgleisung von Hannover dramaturgisch auf die sehr berechtigten Einwände eines jungen Mannes auf, der vorgeblich seinen Job als Ordner hinwirft, um seine Integrität zu wahren. Die Menschen scheinen ihre Helden zu brauchen, oder wenigstens ihre Projektionen. Irrwitzigerweise bemühen sich die gleichen Medien inzwischen, den Gerechten zu diskreditieren, indem sie ihn einem linken Krawallspektrum zuzuordnen bemüht sind und seine Reaktion als einstudierte Aktion zu diffamieren trachten. Geplantes Drama. Als wenn es in diesem Fall nicht vollkommen Wurscht wäre, Hauptsache es sagt überhaupt mal einer was, anstatt schlimmstenfalls noch stumpf zu jubeln und komplett hirnfrei zu applaudieren.

Statt dieser albernen, investigativen Korinthenleserei, sollten sich die Medien lieber kanalübergreifend engagieren, reale gegenwärtige wie geschichtliche Sachverhalte transparent darzustellen, anstatt durch lärmige Polarisierungen und Discountjournalismus ihre Reichweiten zu befeuern. Haltungsjournalismus ist auf Dauer eben doch ein bisschen zu „dünn drüber“.

Man ahnt, dass die Mehrheit eben keine genaue Vorstellung mehr hat oder eben niemals hatte von dem, was eine Sophie Scholl und die „Weisse Rose“ zu riskieren bereit waren und warum oder wofür eine Anne Frank mit ihren Aufzeichnungen stand und für immer stehen sollte. Und das erschreckend weit hinein in gemeinhin als halbwegs ordentlich beschult beschiedene Verhältnisse. Auch die knappen Einlassungen im WELT-Panorama ohne weiterleitende Hinweise geraten arg schlank, gemessen am Gewicht der tiefenschwachsinnigen Fehlinterpretationen.

In den vergangenen Monaten wurde ich immer und immer wieder zurechtgewiesen, Querdenkern zuzuhören, die auch nur ihren Sorgen und Nöten Ausdruck verliehen. Ich solle sie ernst nehmen und ihre Meinung als Teil unserer pluralistischen Gemeinschaft tolerieren. 

Im Ernst? „Eins und eins gleich Käsebrot“ ist keine Meinung und auch kein intelligenter Beitrag, sondern Einhornflatulenz. Solange wir uns nicht auf ein Mindestmaß sachlicher Parametrisierung der Verhältnisse abstimmen wollen oder können, fehlt mir jede Grundlage für eine sinnorientierte wie zielführende Debatte. 

Zumal diese Leute kaum noch erreichbar sind. Denn eigentlich suchen die ja schon lange keine Diskussion mehr, sondern brauchen um so dringender belastbare Therapeuten. 

https://www.welt.de/vermischtes/article220731948/Querdenken-Rednerin-vergleicht-sich-mit-Sophie-Scholl-Ordner-wirft-Job-hin.html?wtrid=socialmedia.socialflow....socialflow_facebook&fbclid=IwAR2_RUXYJeiq4-AvMhYRGMU9TD0DunXsF21TUcFdkrh9UbOPc2HGa2s_0iA

Bruno SchulzComment