"Chuzpe" ("Die Tante", Kapitel 9)

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Bea erzählte mir wenig diskret von einer Unterhaltung ihrer Eltern, die kaum streitlos miteinander, aber erstrecht nicht ohne den anderen leben konnten. Levi hatte wieder irgendetwas ausgefressen. Beas Vater wusste sein Leben zu genießen und verfügte dazu über ein extrem loses, aber geschultes und im Wortschatz ausgesprochen reiches Mundwerk, das ihn zu einem grandiosen Conferencier machen konnte oder eben auch zu einem üblen Zotenreisser, was beides in Ordnung ist, solange man sich den Ort, die Zeit und das jeweilige Publikum zu vergegenwärtigen vermag. Diese Fähigkeit kam Levi allerdings regelmäßig mit steigendem Rotweinumsatz exponentiell abhanden. Und genau darum ging es wohl auch diesmal, wofür Levi selbstverständlich eine in sich logisch klingende Erklärung fand, die Sarah so nicht durchgehen lassen wollte. „Levi, Du kannst einem Rabbi von beinahe neunzig Lebensjahren nicht solche Geschichten erzählen.“ „Warum nicht, es hat ihn doch sichtlich belebt?“ „Was ihn belebt hat, war nicht Dein Witz, sondern ein glücklicherweise anwesender Mediziner, der ihm half, die Fassung wiederzufinden.“ „Aber irgendwie war ich ja schon daran beteiligt …“ Dafür erhielt Levi von Sarah die Chuzpe-Spange in Gold, mit Edelsteinen dekoriert und die gelbrote Karte mit Aussicht auf getrennte Schlafzimmer. Fürs erste.

‚Chuzpe‘ - das ist ein tolles Wort, fand ich. Es ist eines jener typischen Worte aus dem Jiddischen, das für so viele Dinge steht und das sich doch nicht ganz so leicht greifen lässt. „Was bedeutet Chuzpe für Dich“, fragte ich Bea. Ich hörte im Hintergrund das knitternd knattrige Geräusch einer Zeitung, die augenblicklich zusammengefaltet wurde. Das war das übliche Signal. Tante Elena hatte uns, natürlich rein zufällig, gehört und machte sich bereit, in unseren Dialog miteinzusteigen. Das bot ihr neben der willkommenen Gelegenheit des Austauschs eben auch den Rahmen, endlich mal wieder eine ihrer filterlosen Fluppen anzustecken, aus der zweiten oder dritten Schachtel des Tages, wer wusste das schon so genau, und einen rabenschwarzen Kaffee nachzugießen. 

„Also?“ „Also was?“ „Bruno hat Dich doch was gefragt?“ „Jahaaa. Frechheit vielleicht. Und Respektlosigkeit möglicherweise. Unverschämtheit? Dreistigkeit? Da fehlt noch was, richtig?“ „Was meinst Du, Bruno?“ „Ich finde Unverschämtheit treffend. Aber unbedingt intelligent. Dreist, ein bisschen unwiderstehlich. Anmaßend auf jeden Fall. Auch witzig?“ Tante Elena sog tief an ihrer Camel, um mit dem auszustoßenden Qualm auch gleich noch ihre Worte freizulegen: „Da gibt es ein sehr schönes Buch über den jüdischen Witz. Es stammt von der Schriftstellerin Salcia Landmann, eine galizische Jüdin aus Żółkiew in der Nähe von Lemberg. Ihre Leute sind allerdings schon vor dem ersten Weltkrieg in die Schweiz gezogen.“ „Du kennst die Biographien immer ziemlich genau.“ „Nur wenn sie mich interessieren.“ „Ihr Buch ist aus den frühen Sechzigern. Sie hat auch einige Kritik dafür bekommen, weil die Leute zu blöd waren, ‚Judenwitze“ und ‚jüdische Witze“ auseinander zu halten, aber pauschal Alarm gaben. Und das ganz furchtbar genau. Manchmal waren das sogar dieselben Leute, die das auch mit unserer Deportation ganz furchtbar genau nahmen. Keine zwanzig Jahre vorher. Egal, zurück zu ihrem Buch. Darin fand Salcia ein ausgezeichnetes Beispiel für den Begriff ‚Chuzpe‘, das heute quasi Standard geworden ist.“ „Die Nummer mit dem Mord?“ „Ja, genau die. Es geht in etwa so: ‚Chuzpe ist, wenn einer Vater und Mutter erschlägt und im Plädoyer seines Mordprozesses mildernde Umstände verlangt, weil er ja nun elternlose Vollwaise sei.“

„Hahaha, wie geil …“ „ja, ziemlich. Es gib da allerdings einen Unterschied in der Bewertung des Begriffs. Im Jiddischen steckt da immer noch irgendwo und irgendwie Anerkennung mit drin. Da geht es um sowas wie Auflehnung gegen Konventionen. Bis zum letzten. So ähnlich jedenfalls. Im Hebräischen ist das Verständnis von ‚Chuzpe’ eher negativ besetzt. Da versteht man das als Grenzverletzung von Anstand oder Höflichkeit, um die eigenen Bedürfnisse durchzusetzen. Eine Ego-Veranstaltung. Gar nicht gut.“

„Und Du, wie siehst Du das, Tante Elena?“ „Unsere Leute stammten ja ebenso aus Galizien. Ashkenasim. Wir lachen gern. Manchmal bitter. Aber immer noch gern. Der Rabbi Walter Rothschild aus Wien hat mal gesagt: ‚Man muss nie vergessen, Lachen, Humor, ist eine Waffe der Schwachen, der Machtlosen. Man fühlt sich machtlos, desto mehr braucht man Humor.‘“ „Tante, hast Du vielleicht auch eine Anekdote zum Thema ‚Chuzpe‘?“ „Lass mich kurz nachdenken, ich glaube schon.“ Sie nahm noch einen Schluck von dieser bittersauren Plörre, die sie Kaffee nannte und sich aus der schäbigen Thermoskanne nachgeschenkt hatte , ohne die man sie eigentlich nirgends antreffen konnte, zog eine weitere Zigarette aus der knittrigen Schachtel, um die mit einem Streichholz anzustecken, dass nur so die Funken flogen. Sarah hatte immer Angst, dass sie eines Tages noch das ganze Haus anzünden würde, aber Tante Elena entgegnete salopp, dass das ja nicht einmal die Scheißnazis geschafft hätten.“ Pause. Dann legte sie los.

„Ok, da ist also dieser Bettler, der da draussen auf der Straße rumlungert. Das sieht eine Hausfrau durch ihr Küchenfenster. Der Bettler tut ihr leid. Sie bittet ihn also herein und gibt ihm etwas zu essen. Auf dem Tisch steht ein großer Brotkorb voller Schwarzbrot. Und außerdem steht da noch ein großer Teller mit ein paar Scheiben Challe …“ „Was ist ‚Challe‘?“ „Das kennst Du, Bruno. Hast Du schon oft bei uns gegessen. An Shabbat oder Feiertagen, Das geflochtene Weißbrot.“ „Ahja, ich wusste nicht, wie es heisst.“ „… der Bettler stürzt sich also prompt auf die Challe, worauf die Hausfrau vorsichtig meint: ‚hey, wir haben auch Schwarzbrot‘. Der Bettler entgegenet: ‚ich esse aber eigentlich viel lieber Challe‘. Sie wendet ein:‚aber, guter Mann, die Challe ist doch sehr viel teurer!‘ … und er anmerkt: ‚aber das ist sie ja auch wert, gute Frau!‘ … hahaha. Ok, ich merke schon, der war Euch zu brav.“

„Naja, nein, so ist es nicht, Tante Elena. Ich finde ihn nur nicht so richtig chuzpemäßig. Frech ja, aber Chuzpe?“ „Ich glaube, ich verstehe, Bea. Dann will ich mal versuchen, den Unterschied besser herauszuarbeiten: Stell Dir also vor, Du kämst mal überraschender Weise früher nach Hause und fändest dort Deinen Freund textilfrei in den Armen Deiner allerbesten und ebenso unbekleideten Freundin vor. Und das in Deinem Bett. In Deiner Wäsche. Mit Champagner. Aus Deinen Gläsern. Du musst zugeben: das wäre eine absolute Frechheit.“ „Allerdings!“ Bea blickte sehr überzeugend drein. „Natürlich reagierst Du sauer. Drehst auf, schreist rum. Wenn dir aber Dein Freund auf Deine Empörung hin entgegnete, du solltest dir an der Performance Deiner besten Freundin mal ein Beispiel nehmen, dann wäre das Chuzpe …“

„Oha.“ Wir alle mussten herzhaft lachen und ich denke, wir sind dank Tante Elenas Anekdoten und lebensnahen Analogien auch an diesem Nachmittag in Sachen Begriffsanalyse mal wieder einen bemerkenswerten Schritt weitergekommen.