"Déja Vu" ("Die Tante", Kapitel 10)

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Wir alle kennen diese seltsamen Augenblicke, in denen man vermeintlich schon einmal Erfahrenes wiederholt durchlebt. Ein solches „Déja-Vu“ bezeichnet man in der Psychopathologie als ‚qualitative Gedächtnisstörung‘ und die ist eine Erinnerungstäuschung oder sogenannte Bekanntheitstäuschung. Die Franzosen sind in der Bezeichnung dieses psychologischen Phänomens schon etwas genauer. Sie unterscheiden in ein „Déjà-écouté“ beziehungsweise „Déjà-entendu“ für ein „schon gehört“, in ein Déjà-vécu für „schon erlebt“ und ein „Déjà rêvé“ für „schon geträumt“ beziehungsweise „schon mal vorgestellt“ oder „eingebildet“.

Und mit dem „Déjà-écouté wäre am besten gegriffen, was mir kürzlich widerfahren ist. Da saß ich also mit einem Kunden im Gespräch, oder vielmehr mit jemandem, der ein ebensolcher hätte werden können. Ein Mensch, der in seinen Routinen gefangen ist, weil alles schon immer so war, darum wohl immer so bleiben muss und dem ich gerne mit einem Perspektivwechsel geholfen hätte, seine unternehmerischen Befindlichkeiten neu zu sortieren. Es ging gar nicht mal um den ganz großen Spagat, wie disruptive Innovationen und all dieses neumodische Zeug. Eher darum, Vorhandenes anders zu besehen, zu bewerten und dann vielleicht neu zu ordnen, um künftig besser bestehen zu können. Und das auch in Zeiten von Krisen. 

Ich konnte so viel erzählen und erklären wie ich wollte, Bilder formen, Analogien bilden, Metaphern bemühen: selbst als ich schon fast ein Ziel zu erkennen glaubte, ernüchterte mich mein Gegenüber mit einem Statement, das uns gefühlt eher noch vor den Start zurückkatapultierte, als auch nur einen Meter vorantrieb.

Als ich mich in meiner aufpilzenden Verzweiflung zurücklehnte und meine Gedanken in der losen Anordnung der Lochung der Akustikdecke im Loft unserer Agentur zerstreute, war es plötzlich da: das nur vermeintlich trügerische Gefühl, schon einmal im Dialog an genau dieser Verständnishürde gescheitert zu sein. Mitausgeliefert wurde mir ein Hoffnungsschimmer, denn damals vor über 35 Jahren, löste mir die geistreiche Tante Elena meiner Schulfreundin Bea die sisyphossche Herausforderung und meine Erklärungsnot auf mit einer humorvollen Anekdote in historischer Dimension.

Wir saßen damals im Wintergarten der herrschaftlichen Gründerzeitwohnung von Beas Eltern. Bea und ich spotteten resignierend über die Verhaltensschleifen eines gemeinsamen Bekannten und dessen Erkenntnisstarre. So kam es, dass wir irgendwann schließlich auch Tante Elena darüber berichten mussten, denn natürlich hatte sie das eine oder andere Stichwort vernommen und sie trug die Neugier voller Stolz als zweiten Vornamen.

„Mich erinnert das alles an einen großartigen Dialog den man Ben Gurion und Pinchas Rosen nachgesagt hat. Natürlich ist das nur ein Witz, aber wer weiß das schon so genau. Ihr wisst, wer das ist?“ „Ben Gurion klar, aber Pinchas Rosen?“ „Das war der erste israelische Justizminister …“ Tante Elena schenkte sich aus ihrer reichlich ramponierten Thermoskanne, heute würde es ‚vintage‘ heissen, einen Kaffee nach, der vielmehr an ein hochgiftiges Industrieöl erinnerte, denn an ein menschenverzehrfähiges Genussmittel. Dazu steckte sie sich eine weitere ihrer zahllosen filterlosen Zigaretten in den Mund und zündete die mit großer, fahrender Geste mit einem Streichholz an. Es waren immer nur Streichhölzer, ich habe Tante Elena nie ein Feuerzeug benutzen sehen. Die Kippe brannte wie die Lunte an der Tante, die Glut leuchtete hellrot, sie sog tief ein und mit dem Qualm kam auch schon die Geschichte:

„Ihr müsst wissen, der Pinchas Rosen stammte aus Deutschland. Und Ben Gurion aus Polen. Vielmehr aus dem sogenannten Kongreßpolen, was zum russischen Kaiserreich gehörte, aber das führt jetzt zu weit. Rosen fragt also Ben Gurion: ‚sag mal, warum lacht Ihr Ostjuden eigentlich immer über uns Jeckes?‘ ‚Das will ich Dir gerne erklären‘, verspricht dieser und sucht zu diesem Zweck gemeinsam mit Rosen den Laden eines anderen Jecke auf. Jecke sind die Westjuden, aber das habt Ihr ja sicher schon begriffen, richtig?“ Wir nickten so synchron wie Esther Williams Badenixen schwammen. „Gut gut. Ben Gurion und Rosen stehen also im Laden von dem Jecke und Ben Gurion verlangt nach einer Schachtel Streichhölzer. Kaum hält er diese in seinen Händen, öffnet er sie und meint, er hätte gerne eine Schachtel, in der die Hölzer andersherum liegen. Der Jecke öffnet also ein paar Schachteln und meint, die würden alle in der gleichen Richtung liegen. Nichts zu machen. Es ist wie es ist. Danach nimmt Ben Gurion Rosen mit in den Laden eines galizischen Händlers. Ihr wißt, wo Galizien liegt?“ „Ja, Tante Elena, Deine Heimat.“ „Ganz genau. Ben Gurion verlangt wieder nach Streichhölzern und beanstandet auch diesmal die falsche Lage. Der Galizier dreht unter der Theke den Inhalt einer weiteren Streichholzschachtel um und meint, er könne vielleicht helfen. Er habe da einst unter schwierigsten Bedingungen eine Sonderanfertigung auftreiben können. Sogleich macht er sich scheinbar auf die Suche und wird, oh große Überraschung, schließlich fündig. Er sei vielleicht bereit, diese sehr besondere Schachtel abzutreten, müsse aber fünf Prutot mehr berechnen … ‚Sie verstehen sicher‘. Ben Gurion wendet sich an Rosen und sagt: ‚Verstehst Du jetzt, was ich meine?‘ Darauf entgegnet Rosen: „Aber das war doch bitteschön reiner Zufall, dass der Galizier noch diese eine, besondere Schachtel hatte …“

Hahaha, was war das wieder für eine großartige Geschichte. „Ja genau, darum geht es, Deine Anekdote ist ganz wunderbar, Tante Elena.“ „Dann erzähle sie Deinem verständnisgebremsten Bekannten, vielleicht geht es ja so, Bruno.“ „Ja, vielleicht.“

Und auch diesmal will ich es genau so wieder versuchen.