"Gute Witze" ("Die Tante", Kapitel 2)

elena2.png

Als ich eines Spätsommernachmittags in den frühen Achtzigern mal wieder mit meiner Schulfreundin Bea auf der ausladenden Wohnzimmercouch ihrer Eltern rumhing, selbstgedrehte Zigaretten rauchte, süßen Tee trank und auf dem väterlichen Schneewittchensarg im Gedächtnis an Dieter Rams „leise Ordnung der Dinge“ Pink Floyds „Wish you were here“ hörte, schlich von Zeit zuZeit Tante Elena an uns vorbei, aus ihrem Wintergarten über die hundertjährigen Pitch-Pine-Dielen in die Küche mit dem französischen Landkneipenfliesen und zurück, immer wieder frisch munitioniert mit einer weiteren Tasse schwarzen Kaffees, derer sie täglich Legionen zu absorbieren schien, um als Einfrauantikoffeinkommando den Rest der Welt durch ihre persönlichen Einsatz vor übermäßigen Konsum der gefährlichen Wachmachdroge zu schützen. Durch künstliche Verknappung. Dabei wusste sie beinahe alle ihre Handlungen mit ein paar Worten von Ewigkeitswert, einem Witz oder wenigstens einer groben Zote zu begleiten. Sie schaute nicht einmal auf dabei. Und es störte sie natürlich auch kein bisschen, dass schon wieder mehrere Zentimeter Asche von ihrer filterlosen Camel abzufallen drohten, während in diversen Aschenbechern weitere Exemplare sinnfrei verglimmten. Vermutlich war es ihr nicht einmal bewusst in ihrem Fatalismus, den niemand als organisch oder aufgesetzt zu bewerten wagte. Ich hielt ihn für pathologisch. Das Fundament meiner marianengrabentiefen Sympathien für diese Frau.

„Tante Elena“, sie hatte mich angehalten, sie ebenfalls so zu nennen wie alle anderen auch, das mache die Dinge einfacher und klarer, „Tante Elena, was macht für Dich eigentlich einen guten Witz aus?“ Sie stoppte, blickte an die Raumdecke, zog tief an ihrer Zigarette und atmete eine vernebelte wie vernebelnde Antwort aus: „Einen guten Witz? Das ist eine große Frage.“ Und schlurfte weiter in Richtung Wintergarten. Mit einer fahrigen Handbewegung forderte sie mich sehr lässig auf, ihr zu folgen. Für mich war sie ein Rockstar. Sie sang zwar nicht und spielte auch kein Instrument. Aber Rockstar zu sein, war für mich von jeher eher eine Frage der inneren Einstellung, denn von kommerziellem Output.

Wir saßen nun an ihrem Shabby-Vintage-Wackeltisch, sie schlug ein Bein über das andere, räucherte sich eine ihrer grauschwarzen Locken aus der Stirn und setzte an: „Ein Witz, ein guter Witz, ist ja eigentlich fast immer sowas wie eine kurze Geschichte, eine Erzählung. Meistens ausgedacht. Sie hat eine Struktur. Fast so wie ein Gedicht. Letztlich eine immergleiche Dramaturgie.“ „Du meinst, sie hat immer gleiche Bestandteile?“ „Genau. Ein Witz braucht mehr oder weniger eine Ankündigung, so dass der Zuhörer auch versteht, dass es jetzt lustig werden könnte: Achtung, jetzt geht’s los! Dann kommt die Vorstellung der Situation, der Ort, die Personen, der Plot, wenn Du so willst. Dann kommt die Handlung. Die braucht Raum für Interpretationen. Idealerweise hat sie scheinbar nur eine einzige Deutungsmöglichkeit, weil es sich eben so eingeschliffen hat. und währenddessen baust Du Dir als Erzähler eine zweite Deutungsmöglichkeit auf. Und dann kommt die Pointe. Patsch. Sie ist die Auflösung. Zeigt, dass es eben einen anderen Weg gibt. Die Pointe lebt vom Doppelsinn und der Erkenntnis, dass ein Sachverhalt nicht zwingend einer einzigen Auffassung unterworfen ist. Das wirkt erlösend. Deshalb lacht man.“ „Wollen wir das nicht mal mit einem Witz aus Deinem unerschöpflichen Fundus nachzeichnen?“ „Wir wollen es versuchen. Nehmen wir diesen, einen jugendfreien Klassiker:“

”Es kommt eine Flut. Das ganze Land versinkt und der fromme Schmuel bittet Gott, ihn zu retten. Schließlich sei er ja sein treuer Diener und besuche regelmäßig die Synagoge. Da passiert ein Traktor sein Grundstück und man bietet ihm an, ihn mitzunehmen. Doch Schmuel lehnt ab: „Danke, nicht nötig, Gott wird mir helfen.“ Das Wasser steigt. Er klettert also auf das Dach seines Hauses. Es dauert nicht lange und ein Boot tuckert heran. Man will ihn in Sicherheit bringen. Schmuel winkt wieder ab: „Danke, nicht nötig, Gott wird mir helfen.“ Das Wasser steigt unerbittlich. Nun klettert er auf seinen Schornstein, klammert sich fest mit letzter Kraft. Schon kommt ein Hubschrauber angeflogen, der Pilot will ihn mitnehmen. Schmuel kann kaum noch den Kopf über Wasser halten, winkt aber schon wieder ab und meint: „Danke, nicht nötig, Gott wird mir helfen.“ Schließlich ertrinkt er.

Kaum im Himmel, trifft Schmuel auf den Höchsten und unterstellt diesem, ihn im Stich gelassen zu haben. Der wird sauer und entgegnet: „ich habe Dir einen Traktor, ein Boot und einen Hubschrauber geschickt. Was also hätte ich wohl sonst noch alles tun sollen?“

„Der hat im Grunde mehrere Pointen.“ „Ja und nein. Er hat vor allem aber noch eine versteckte, die sich so ohne weiteres gar nicht erschließt. Dazu brauchst Du ein bisschen, sagen wir: ‚Insiderwissen‘.“ „Erhelle mich …“ „Gerne. Weißt Du, wir Juden kennen zwar auch diese Bittgebete ‚tu dies und das für mich‘, aber eigentlich bitten wir Gott grundsätzlich nicht um Gefälligkeiten. Wir machen uns mit solchen Witzen lustig über diese Form von bettelnden Stoßgebeten: ‚gib dies, mach das, tue jenes … jetzt sofort für mich allein … auf drei … zackzack‘.“ „Eine Bonusebene? Ein Witz mit VIP-Bereich?“ „Ich sehe das anders. Für mich ist das ein Witz, der allen etwas bietet. Auf jedem Niveau. Das zeichnet einen guten Witz für mich aus.“ „Ja, das ist wohl so.“ Ich schaute aus dem Fenster. Durch die Kastanien ging der Wind. Ich lernte.

Die TanteBruno SchulzComment