"Kein Vergleich" ("Die Tante", Kapitel 4)

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„Bruno, sie ist nicht da.“ „Schade.“ Mir gegenüber stand Tante Elena in der herrschaftlichen Wohnungstür zur gutbürgerlichen Gründerzeitetage von Beas Eltern. Hinter ihr der lange Flur mit den wundervollen, mehr als hundert Jahre alten Pitch-Pine-Dielen. Darauf ein kostbarer Seidenläufer aus dem Orient, links und rechts flankiert von raumhohen Bücherregalen mit einem sehr großzügigen Ausflug quer durch die Weltliteraturgeschichte.

Tante Elena war, eigentlich wie immer, mit einer sehr großen Tasse dampfenden Kaffees ausgestattet, die sie sich wohl soeben in der Küche zubereitet hatte, als ich klingelte. „Willst Du trotzdem reinkommen und mir ein wenig Gesellschaft leisten?“ „Hm, ja und nein. Ich habe gerade hier in der Gegend etwas für meine Mutter erledigt. Ein Botendienst für eine ihrer alten Freundinnen, ziemlich direkt in der Nachbarschaft. Ein Zufall. Da wollte ich die Gelegenheit nutzen und Bea schnell ‚Hallo‘ sagen. Wir haben uns ja einige Zeit nicht gesehen.“ Sie nippt an ihrer Tasse. Beidhändig und beobachtet mich dabei über den Rand: „Du hast wohl Angst, dass ich Dich wieder mit meinen Geschichten verhaften könnte?“ „Ganz sicher nicht. Und das weißt Du ganz genau.“ „Na gut. Dann wenigstens einen auf die Reise? Ein kleine Geschichte to go?“ „Unbedingt.“ Sie zog sehr tief an ihrer Camel ohne Filter, als wolle sie mit dem Glutkegel das ganze Treppenhaus heizen und schon ging die Nummer los. 

„Gut gut. Da ist also dieser Rabbi aus Kiryat Hadassa.“ Sie winkt meinen Frageansatz ab: „Das ist im Westen von Jerusalem. Rabbi Menachem ist ein sehr gläubiger Mann. ‚Old school‘ würdet Ihr heute sagen. Wie aus dem Bilderbuch.“ „Schläfenlocken, Rauschebart und so?“ „Das volle Programm. Rabbi Menachem also ärgert sich sehr, dass so viele Gläubige ohne Kippa in seine Synagoge kommen. Er macht sie dafür an, beschimpft sie … keine Reaktion, er verflucht sie, aber es stellt sich keine Besserung ein. Der Rabbi verabscheut es zutiefst, dass die Sitten so verlottern und darum befestigt er schließlich ein Schild am Eingang mit dem eindringlich warnenden Hinweis: ‚Das Betreten der Synagoge ohne Kippa ist ein dem Ehebruch vergleichbares Vergehen.‘ Im Vertrauen auf die Wirkung seiner bedrohlichen Analogie, bettet er sein müdes Haupt und fällt in einen tiefen, erholsamen Schlaf. Am nächsten Tag stellt sich wieder keine Veränderung ein und Rabbi Menachem staunt nicht schlecht als ihn einer der Gläubigen auf seinen Warnhinweis anspricht: ‚Es stimmt nicht, Rabbi. Ich habe es heute Nacht ausprobiert: es ist kein Vergleich!‘

Hahaha, Tante Elena lachte tief und dreckig aus ihrem Raucherkeller, bellte mir noch mit dem groben Humorhusten der Langzeitnikotinjunkies ein freundliches ‚auf bald‘ nach, um ihre verglimmende Kippe zischend in die Kaffeetasse zu stecken und darauf die Tür zu schließen, vor der ich noch immer auf dem Abtreter stand und ihr dabei zuhörte, wie sie den Flur entlangschlurfte und mehrfach wiederholte: ‚es ist kein Vergleich‘… ‚hahaha‘. Immer wieder musste sie über ihre eigenen Worte lachen.

Ich überlegte noch, was ich wohl besser fand, die Tante selbst, oder ihre abstrusen Geschichten. Achwas, beides natürlich. Sie zu trennen, fühlte sich an wie Gin ohne Tonic. Quatsch demnach? Allerdings.