"Ethik" ("Die Tante", Kapitel 5)

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Es war einer jener schäbigen Donnerstagnachmittage im März 83 oder 84, an denen es draußen stürmte und regnete und man keinen besseren Platz finden konnte, denn auf einer großzügigen Couch. Bewaffnet mit Kissen, Decken, ein paar Zeitungen und Magazinen, dem Album ‚Rumours‘ von Fleetwood Mac, sowie hinreichend Proviant in Form von Kaffee, Keksen und Tabak. Unsere einsame Insel, auf der uns vor allem eins mit der Literaturvorlage ‚Robinson Crusoe‘ von Daniel Defoe verband: das sehnsüchtige Warten auf Freitag. Und das Wochenende, natürlich. Ok, wir konnten uns unterhalten. Immerhin. Der Punkt ging an uns.

Bea und meine Wenigkeit hatten seit ein paar Tagen ein neues Wahlpflichtfach belegt: „Ethik“. Wir konnten sehr gut dabei zuhören, wie ihre neugierigen Eltern sich im Nachbarzimmer darüber unterhielten: „Ethik als Schulfach, was soll das sein?“ „Keine Ahnung, irgend so ein moderner Quatsch, Schnickschnackpädagogik, Experimentalunterricht, 68er-Unsinn, am besten fragst Du mal Deine Tochter oder ihren Komplizen.“ Beas Mutter Sarah war natürlich sehr wohl bewusst, dass wir das Gespräch verfolgten, was aber von unserer Seite nur wenig mit Indiskretion zu tun hatte. Die beiden waren einfach wie immer so laut, dass inzwischen wohl das ganze Haus über unseren neuen Stundenplan informiert sein musste. Bea rollte die Augen: „Oh Mann, Mutter. Ihr seid sowas von peinlich.“ „Wir sind peinlich?“ Sarah betrat sogleich das Wohnzimmer mit einem Glas Rotem in der Hand. Beas Eltern konnten sich nach dem Frühstück keine weitere Mahlzeit ohne feinabgestimmte Weinbegleitung vorstellen. Ich gebe gerne zu, dass ich in diesem hochkultivierten Haushalt hervorragend auf das Leben vorbereitet wurde, auch wenn ich das damals noch nicht immer ahnen wollte.

„Also?“ „Also was?“ „Also, was bedeutet für Euch ‚Ethik‘?“ Inzwischen war auch Tante Elena dazugestoßen, rauchend ‚comme toujours‘ und einen Kaffee hielt sie selbstverständlich auch in der Hand. Sarah bohrte weiter. Und Bea versuchte eine griffige Definition zu finden: „Die Ethik ist ein Teilbereich der Philosophie.“ Ich stieg mit ein und sekundierte: „… da geht es um die Voraussetzungen und die Bewertung von menschlichem Handeln, um ein methodisches Nachdenken über Moral.“ „Und weiter?“ Sarah lachte und schüttelte ihre schwarzen Locken. „Ist das alles? Euer Hemdchen ist doch reichlich kurz.“ 

„Vielleicht kann ich mich mit einer kleinen Anekdote einbringen und versuchen, den Nebel zu lichten?“ Tante Elena machte ihre typische Geste, mit der sie uns alle versöhnlich in die Arme zu nehmen schien nebst erwartungsfrohem Blick, der uns signalisieren mochte, dass sie uns in wenigen Lidschlägen mit einer famosen Geschichte zu begeistern wusste, denn unser ‘ja‘ war nur allzu selbstverständlich.

„Also gut“, sie zog noch einmal derart tief an ihrer filterlosen Camel, dass sie mich an die ganzkörperbelederten Feuerschlucker auf diesen seltsamen Mittelaltermärkten erinnerte. Als wolle sie alle Glut in sich aufsaugen, um das eigene Feuer ständig aufs neue zu entfachen. Sie stellte Ihre Kaffeetasse auf die Kommode. „Elena“, stönte Sarah, „stell die Tasse doch bitte auf einen Untersetzer, sonst bekommen wir wieder diese Scheißränder auf dem Nussbaum. Danke.“ Tante Elena äffte sie lautlos nach und winkte dabei ab, um mit ausladender Gebärde ihre Worte von Ewigkeitswert anzukündigen. 

„Da ist also dieser kleine Jakob. Vielleicht ist er elf, vielleicht aber auch zwölf Jahre alt. Er fragt seinen alten Herrn: ‚Vater, Vater, was bedeutet eigentlich Ethik?‘“ „So wie Sarah …“ „… naja, vielleicht so ähnlich, nur hat der kleine Jakob wirklich nicht die leiseste Ahnung von Ethik. Er hat also seinen Vater nach dem Ethikbegriff befragt. Der entgegnet ihm: ‚mein lieber Junge, Jakob, ich will Dir ein Beispiel sagen. Da kommt also der Grün zu mir ins Geschäft und er will einen Mantel kaufen. Der Mantel kostet sechzig Mark.‘“ „Sechzig Mark? Dafür gibt’s doch keinen Mantel.“ „Unterbrich mich nicht. ‚Der Grün will also einen Mantel für sechzig Mark kaufen. Er probiert ihn an. Der Mantel gefällt ihm ganz ausgezeichnet. Der Grün bezahlt mit einem Hunderter. Ich schlage den Mantel vorsichtig ein und überreiche ihn dem Grün in einer Tasche, begleite ihn an die Tür. Ding Dong. Die Tür ist auf, ich verabschiede den Grün auf dem Trottoir und kehre zurück in den Laden. Kaum stehe ich wieder am Tresen, sehe ich, dass der Grün sein Wechselgeld vergessen hat.‘ ‚Vierzig Mark!‘ ‚Ja Jakob, Du hast gut mitgerechnet, vierzig Mark. Und Achtung, jetzt beginnt die Sache mit der Ethik: soll ich das Geld einfach einstecken, oder wäre es moralisch richtig, es mit meinem Kompagnon zu teilen?‘“

„Hahaha …“ und da war es wieder, dieses unglaublich herzhafte, tiefraue Lachen aus dem Raucherkeller. Tante Elena lachte und hustete und weinte und zuckte, alles zugleich. Und wir alle hatten wieder etwas mitnehmen dürfen. Für immer und für alle Zeit. Vollkommen begeistert. An einem jener schäbigen Donnerstagnachmittage im März. 83 oder 84. Ganz egal.