"Shabbat Shalom" ("Die Tante", Kapitel 3)

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Die Pflanzen wachsen besser, die Hühner legen besser und auch unsereins ist besser dran, wenn nur die liebe Sonne scheint. Der Wintergarten von Beas Eltern war an diesem Freitagnachmittag zwischen spätem Winter und frühem Frühjahr stark lichtdurchflutet, woran auch die rauschenden, majestätischen Kastanien vor der etwas angestoßenen Gründerzeitvilla nur wenig zu ändern vermochten. Die Sonne fand sehr erfolgreich ihren Weg auf unsere Gesichter und in unser Gemüt. Level „skandinavischer Impressionismus“, Serotonin versus Melatonin: eins zu null! So stand es bereits kurz nach Spielbeginn und so sollte es noch ein kurzweilig bleiben. Bea, Tante Elena und meine Wenigkeit saßen um den wackligen alten Holztisch, auf dem sich Zeitungen, Zeitschriften und Bücher in wildem Durcheinander befanden, so wie 3 Kaffeetassen und ein Aschenbecher, der auch als gefährlich vernachlässigte Kreisgiftmülldeponie durchgegangen wäre. Oder als aktiver indonesischer Krater, denn in ihm glimmten mehrere vergessene Zigarettenstumpfe sinnfrei vor sich hin.

Wir lasen vor uns hin und gelegentlich das interessantere vor, als Tante Elena plötzlich innehielt, um zu ihrem Kaffee zu greifen, natürlich eine Camel ohne Filter in der Hand, mit einem Aschekegel, der allen statischen Gesetzmäßigkeiten spottend einfach nicht abfiel, man konnte ihn noch so sehr beglotzen, er wollte einem diesen Gefallen nicht tun.

„Bruno!“ Tante Elena musterte mich durch ihre aberwitzig überdimensionierte Aristoteles-Onassis-Gedächtnisbrille. Cazal. Aus Passau, wie sie mir immer wieder zu versichern wusste. Aristoteles Onassis, Tante Elena und Passau, was für eine Mischung. Die Asche fiel und sie wischte sie beiläufig vom Tisch. „Bruno, schau mich an.“ „Ja.“ Sie tippte mit dem rechten Zeigefinger rhythmisch bestimmt auf den Tisch und erinnerte mich in dieser Geste fast ein wenig an Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, wie dieser zur UN-Vollversammlung am 12. Oktober 1960 mit seinem Schuh auf dem Rednerpult herum drosch, um sich die seiner Meinung nach gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Sie statuierte:

„Der jüdische Witz nimmt in der Weltliteratur eine Sonderstellung ein.“ Sie war also wieder bei ihrem Lieblingsthema. Und ehrlich gesagt konnte auch ich kaum genug davon bekommen. Sie kannte mich als zuverlässig dünnes Brett, das immer leicht zu bohren war, was ihre zahllosen Anekdoten anging. „Das bezweifelt wohl niemand, Tante Elena.“ „Er ist so viel tiefer, bitterer und schärfer. Er ist dichter und so viel dichterischer als die Witze der anderen.“ Sie zog tief an ihrer Zigarette und blies den Rauch wie eine alte Dampflok nach oben weg, um mich umgehend wieder zu fokussieren: „Ein jüdischer Witz ist niemals nur Witz um des Witzes willen. Immer enthält er eine Kritik, weißt Du?“ Ich nickte bejahend. „Ganz gleich, ob sie religiös ist, politisch, sozial oder philosophisch. Und manchmal ist sie eben auch alles zusammen. Der jüdische Witz ist so oft Volks- und Bildungswitz zugleich. Er ist jedem verständlich und doch voll tiefer Weisheit.“

Wie so oft, war das nur ihre Ouvertüre, ihr Exordium, ihr Startsignal. Sie hatte also wieder einen Witz auf der Pfanne und war sicher noch gespannter als ich, ob sie mir denn wieder einen mir neuen aufzutischen vermochte, einen den ich noch nicht kannte und ihre Quote war brutal. „Also, Abfahrt:“

„Da ist ein Mann.“ „Was für ein Mann, Tante Elena?“ „Lass mich, das tut nichts zur Sache, Bruno, lass mich einfach erzählen.“ „Ok.“ „Da ist also ein Mann. Und der will wissen, ob Sex am Sabbat eine Sünde ist. Er will das unbedingt wissen, denn er ist sich unsicher, ob Sex Arbeit oder Vergnügen ist. Also fragt er einen katholischen Priester nach seiner Meinung: ‚Priester, Priester bitte, ich brauche Deinen Rat. Ist Sex Arbeit oder Vergnügen?‘ Der Priester sucht lange in der Bibel und sagt dann: ‚Mein Sohn, nach meinen ausgiebigen Bibelstudien komme ich zu der sicheren Erkenntnis, dass Sex Arbeit sein muss und somit am Sabbat nicht erlaubt sein kann.‘ Der Mann denkt sich: ‚Naja, was weiß so ein Priester in seinem bescheuerten Zölibat schon von Sex? Keine Ahnung hat der.‘ Also geht er zu einem protestantischen Pfarrer, einem verheirateten Mann. Doch auch aus dessen Bibelexegese ergibt das gleiche, freudlose Fazit: Sex bleibt Arbeit und ist darum, am Sabbat praktiziert, Sünde! Der Mann ist mit den bisherigen Antworten unzufrieden, sucht weiter und befragt also einen Rabbi. ‚Rebbe, lieber heiliger Mann, bitte sagt mir: ‚Ist Sex Arbeit oder Vergnügen?‘ Der Rabbi überlegt reiflich, wiegt seinen grauen Kopf mit dem langen weissen Bart hin und her und sagt schließlich wohl überlegt: ‚Mein Sohn, Sex ist eindeutig ein Vergnügen.‘ Der Ratsuchende stutzt mit großen Augen, ist freudig erstaunt und fragt lieber noch einmal nach: "Rebbe, wie könnt Ihr euch dessen so sicher sein? Alle anderen erklärten mir doch, dass Sex Arbeit sei?" Da antwortet der Rabbi so leise wie weise: ‚Was glaubst Du? Wenn Sex tatsächlich Arbeit wäre, würde meine Frau es vom Hausmädchen erledigen lassen.“

„Shabbat shalom, Bruno“ „Shabbat shalom, Tante Elena, ich liebe den jüdischen Witz.“ „Ich weiß.“

Die TanteBruno SchulzComment