"Verrat" ("Die Tante", Kapitel 8)

"Der Grün und der Blau waren nur zwei kleine Ganoven. Hier ein bisschen Trickdiebstahl, da ein wenig Hehlerei. Nichts großes, gerade genug, um über die Runden zu kommen. Und obwohl sie seit vielen Jahren dasselbe Viertel, die selben Wochenmärkte, Geschäfte und Kaufhäuser bearbeiteten, lernten sie sich doch erst wirklich kennen, als sie in flagranti ertappt, verhaftet und verurteilt wurden und künftig für eine lange Zeit dieselbe Zelle im selben Gefängnis teilen sollten.

Das Gefängnis war ein furchteinflößender, düsterer Backsteinbau aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Gänge, die Zellen: nass, kalt und dunkel. Muffig. Dort angekommen, stand in dem winzigen, in dunklem Grau gestrichenen Raum neben einem Tisch, zwei Stühlen, einem kleinen Schrank und dem Eimer für die Notdurft ein rostiges Eisenstockbett, über dessen Belegung eine Münze des stiernackigen Wärters entscheiden sollte. Der Mann, der keine Widerworte kannte und sich seiner Wirkung selbstgefällig wohl bewusst war, warf also sein Geldstück in die Luft und alle drei verfolgten wie gebannt die Auf- und Abwärtsbewegung und den kurzen Augenblick am Scheitelpunkt, an dem die Welt nur für einen kurzen Moment stehenzubleiben schien, um sie mit der rechten Hand sogleich wieder aufzufangen und klatschend auf seine linke zu schlagen. Kopf für das obere Bett, Zahl für das untere. Blau hatte Kopf, der Grün die Zahl. Kopf lag oben. Es war entschieden.

Neben dem oberen Bett befand sich ein schmales Kippfenster in der meterdicken Außenmauer. Gerade groß genug, um liegend hindurchzuschauen. So gerne hätte der Grün das Bett neben dem Fenster gehabt. So gerne hätte er hinausgeschaut. Aber die Münze hatte entschieden und Grün traute sich auch nicht das Angebot des Blau anzunehmen, es sich wenigstens hin und wieder für ein paar Stunden dort bequem zu machen und den Ausblick zu genießen. Zu groß war sein Respekt vor dem Wärter und dessen Helfern und Zuträgern. Und vor den angedrohten Sanktionen.

Der Blau schämte sich seines Glücks und er wusste sich nicht besser zu helfen, als dem Grün zu berichten, von dem was er da sah: den nahegelegenen Park, das Licht, die Farben, ferne Geräusche und eine Idee von den Jahreszeiten. Von den Frauen und ihren Kleider und wie sie sich bewegten. Der Grün lag in seinem Bett und zehrte sich. Tag ein, Tag aus. So ging es ansonsten einvernehmlich viele Jahre. Man hatte sich eingespielt und aneinander gewöhnt, war beinahe freundschaftlich verbunden.

Irgendwann kam es in dem Zellenblock zu einer Revolte. Grün und Blau beteiligten sich nicht daran. Und dennoch wurden auch sie befragt, denn man wollte alle wenigstens gedanklich Involvierten identifizieren, um sie mit einer deutlichen Haftverschärfung zu belegen, auf dass sehr schnell und für sehr lange Zeit Ruhe einkehrte. Die Aussagen der Zinker sollten diskret behandelt werden, um sie in ihrer Zuarbeit den anderen Häftlingen nicht zur Bestrafung auszuliefern.

Die Wärter wusste um Grüns Sehnsüchte nach dem Bett am Fenster, das hatte sich inzwischen lange herumgesprochen und die Zeiten waren sogar schon fast wieder vorbei, in denen sie sich darüber lustig machten. Nun warfen sie das Bett als Privileg in die Waagschale für den gewünschten Meineid. Nein, er würde den Blau nicht noch einmal sehen müssen. Und nein, niemand sollte von diesem niederträchtigen Verrat je erfahren.

Zurück in seiner Zelle, lernte der Grün seinen neuen Mithäftling kennen. Einen primitiven, grobschlächtigen Mann, der wegen einiger schwerer Gewaltdelikte für viele Jahre einsitzen sollte. Auch wegen Missbrauchs, wobei er vorgeblich keinen Unterschied machte zwischen den Geschlechtern. Der Wärter war noch in der Zelle, als er schon die ersten anzüglichen Gesten andeutete.

Der Grün nahm also seine Decke und zog vom unteren Bett ins obere. Sein Verrat steckte ihm so tief in den Knochen wie die böse Vorahnung dessen, was nun kommen sollte. Er war ein bisschen in die Jahre gekommen und der Aufstieg fiel im nicht ganz so leicht wie erhofft. Grün musste sich erst von der einen Seite auf die andere drehen, um endlich und nach all den langen Jahren aus dem kleinen Fensterschlitz blicken zu können. Seine Erlösung. Und er sah eine Backsteinmauer. Keine 3 Meter entfernt und genau gegenüber. Nicht mal ein bisschen Himmel, kein Licht und keine Farben. Kein Park und schon gar keine Frauen. Er hörte, wie sich die Zellentür hinter dem Wärter schloß. Und er spürte, wie sein Leben augenblicklich an ihm vorüberzog.“

Tante Elena lehnte sich zurück, steckte sich eine ihrer filterlosen Zigaretten an, zog den Rauch tief ein bis in die hintersten Winkel ihrer leidgeprüften Lunge und musterte uns in diesem Augenblick absoluter Stille.