Wir waren Freunde: "Jensens Besuch"

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WIR WAREN FREUNDE.
001 | „Jensens Besuch“

„Wir waren Freunde.“ Ich mache eine Pause. Lasse das setzen. Für meinen Gast, aber auch für mich selbst. Sind wir das nicht mehr? Waren wir das jemals? Freunde? Ich muss nachdenken. Oft sind genau diese Gespräche in der gebührenden Distanz ziemlich harte Prüfsteine. Jensen beobachtet mich. Wir sitzen an dem rustikalen Eichenesstisch, der mitten in meiner großen Wohnküche steht. Zehn Leute finden Platz daran. Oder sogar vierzehn, wenn man eng zusammenrückt. In der Theorie. Denn so viele waren es lange nicht mehr. Wir sitzen uns gegenüber und über uns schwebt eine alte, verbeulte Blechlampe aus einem nordjütländischen Kuhstall, die ein leises, warmes Licht auf uns wirft und unserem Zusammennsein einen atmosphärischen Rahmen schenkt. 

Gut sieht er aus, großgewachsen. Ich habe ihn länger nicht gesehen. „Wie alt bist Du jetzt? Zweiundzwanzig? Dreiundzwanzig?“ „Einundzwanzig! Aber echt, Barba, das solltest Du als mein Quasipatenonkel eigentlich wissen.“ Da hat er recht. Und ich mag es diesmal auch nicht ins lächerliche ziehen. Von wegen „partielle Altersamnesie“ und so, einfach drüberbügeln. „Ja, das stimmt. Blöd von mir. Entschuldige bitte.“ „Es ist ja kein Beinbruch…“ „…aber ein Zeichen. Und es macht etwas mit uns. Das sind diese Nachlässigkeiten, die sich kaum merklich auswachsen, bis sie als Berg zwischen uns stehen und keiner mehr den anderen sieht oder sehen will.“ „Naja, ich bin ja da und sitze hier vor Dir.“ „Seit langer Zeit. Ich finde es großartig, dass Du den Schritt gemacht hast.“ „Ich will ja auch was von Dir.“ Jensen nimmt einen Schluck Weißwein aus seinem Glas.

„Was trinken wir da?“ fragt er gelassen. „Sizilianisches Zeug. Feiner Stoff. Carricante.“ „Das Weingut?“ „Nein, die Traube.“ „Nie gehört.“ „Autochthon. Gibt’s nur da, kommt von da…“ „…so wie Ihr von hier.“ „Wenn Du so willst.“ Ich muss lachen.

„Die Beerdigung.“ „Ich wusste, dass Du das ansprichst.“ „Natürlich, das ist doch der Grund, warum Du jetzt hier sitzt.“ „Naja, auch.“ „Vor allem das. Wie war es denn?“ „Trübe, Nieselregen, matschig, grau in braun in schwarz. Nur sehr wenige Trauergäste, ganz kleiner Kreis. Billiger Margarinestreuselkuchen vom Blech und blasenwarme, saure Kaffeeplörre aus der Presskanne. Die Sahne war über. Als wären die Umstände der Beisetzung nicht so schon deprimierend genug.“ „Deine Tante Claudia wollte das sicher genau so. Sie neigt zum Drama.“ „Sie war aber nicht immer so, oder?“ „Nein.“ „Sie kann Euch noch immer nicht verzeihen.“ „Sie kann niemandem verzeihen. Und am wenigsten sich selbst.“ „Barba, ich bin jetzt einundzwanzig und Du hast mir versprochen…“ „…habe ich das?“ „Ja, das hast Du. Mit achtzehn schon…“ „…das stimmt. Und Du meinst heute ist der richtige Zeitpunkt dafür?“ „Ja. Wann denn sonst? Einer fehlt ja jetzt schon.“ „Gut. Warte, ich hole nur noch Wein aus dem Keller.“