"die wollten das so"

photo: US Defense Department: "USAF c-17 'globemaster' has left Kabul with 800 passengers on board"

photo: US Defense Department:
"USAF c-17 'globemaster' has left Kabul with 800 passengers on board"

Die explodierende Zahl an Afghanistankennern in unserem Land binnen weniger Stunden ist kaum erstaunlich, wenn wir die deutschen Traditionen besehen in den Sujets Fußball, Automobilität, Grillen, Epidemiologie und eigentlich allem, was sich gut mansplainen lässt.

Unterstützt wird das noch durch den großen Inkubator Facebook mit seinen unzähligen Echo-Druckkammern und zum Teil nicht unerheblicher Reichweite. Da gibt es jede Menge Meinungen für jedermann. Alle können etwas beitragen und jeder darf sich etwas nehmen. Ob Meinung immer mit Ahnung korrelieren darf, lassen wir dabei lieber außen vor. Debatten werden nicht selten in Lautstärke gesteuert und Glaubwürdigkeit mit Personal-Branding-Mätzchen verwechselt. Keine Position kann als Brett zu dünn sein, um nicht gebohrt zu werden und selbst für des Kaisers neue Kleider wird es immer einen Haufen Fangirls und -boys geben, denen auch da noch, bei Volltransparenz, kein Karo klein genug sein könnte um sich gedanklich etwas arg bequem darin einzunisten.

Heute morgen also las ich meinen ersten Beitrag eines Talibanverstehers. Nicht, dass wir uns falsch verstehen: ich finde es gut, Perspektiven einnehmen zu können ohne diese zu übernehmen. Er allerdings begeisterte sich für die Hypothese, die Bevölkerung vor Ort wolle alles genau so wie es jetzt gekommen sei, was sich schließlich aus der Geschwindigkeit der Übernahme belegen ließe, außerdem habe ihm ein, je nach Betrachtung näherer oder entfernterer afghanischer Bekannter, ohne Details zu dessen Sachkunde außer der Herkunft, dies vor einiger Zeit genau so bestätigt. Oder halt so ungefähr. Stabilisiert wurde die steile Annahme noch mit den Ergebnissen einer Umfrage, nach der unter anderem 85% der lokalen Bevölkerung die Steinigung von Frauen als „must have“ deklarierten. Meine Frage wer diese Umfrage mit wem, warum, wie und wo vor welchem Hintergrund durchgeführt habe und dass ich mir die Begeisterung der Frauen für ein solch archaisches procedere nicht recht vorstellen mochte, wurde schroff abgebürstet mit dem Hinweis, ich solle doch nicht die stolzen Frauen in ihren Burkas vor mein westlich verzerrtes Weltbild spannen, das ich scheinbar zwanghaft exportieren wolle. Zudem solle ich mir doch erst einmal Kenntnisse der Strukturen und der Kultur vor Ort aneignen, bevor ich mich kommentierend im Thread entleerte.

Kein Problem. Gelöscht. Danke. Auf Wiedersehen.

Nun, wie viele andere, habe auch ich mein Bild von Afghanistan nur angelesen. Allerdings nicht bei Karl May, in Wikipedia oder hier auf Facebook, sondern in Geschichtsbüchern, die nicht erst 1979 (korrigiert, Danke für den Hinweis Tereza) mit der sowjetischen Besetzung starteten. Und das vor etlichen Jahren, was womöglich darin begründet liegt, dass meine Familie seit 1978 mit einigen afghanischen Familien befreundet war und bis heute ist, denen es gelungen war, rechtzeitig aus Kabul zu entkommen. Da war ich zwölf Jahre alt, fasziniert von den Erzählungen, wissensdurstig und glücklich mit den reichlichen, getrennt geführten Bibliotheken meiner Eltern. Die hatten immer völlig unterschiedliche Vorstellung davon, wie eine ebensolche aufzubauen sei, wodurch ich beispielsweise frühen Zugriff sowohl auf den großen Brockhaus, als auch die Meyersche Enzyklopädie hatte. Während sich Gleichaltrige um einen schwarzen Gürtel in Karate bemühten, wollte ich immer eine Art schwarzen Gürtel in Geschichte.

Um es kurz zu machen: soweit kam es dann doch nicht, denn mich haben zuviele andere Interessengebiete gestreift und ich wurde Opfer meines „gedanklichen Nomadentums“, wie es ein befreundeter Kunde viele Jahre später zu bezeichnen wusste. Darum ahne ich heute von einer Menge Dinge etwas, komme aber nur selten tiefer als Stehhöhe.

Fremde Länder blieben für mich aber immer interessant und so nutzte ich die Chance während meines zehnjährigen Engagements in Projekten der internationalen Entwicklungshilfe ein Gefühl dafür zu entwickeln, wie sich die Umstände in fremden Kulturen besser verstehen ließen. Unterstützt haben mich darin immer ganz großartige Menschen, die um die Länder und ihre Besonderheiten sehr genau Bescheid wissen, weil sie dort selbst seit vielen Jahren leben, die Sprachen und deren Dialekte fließend sprechen und in den Alltag eingebettet sind.

Mit diesem Hintergrund ahne ich nicht nur, dass ich ganz sicher kein Afghanistanexperte bin. Das ist ein „scio nescio“, ein „ich weiß, dass ich nicht weiß“, das mit jeder Stunde exponentiell anwächst, die ich mich mit dem Thema befasse.

Umso verwunderter scannen meine müden Augen die aggressive Vehemenz in der Verteidigung von Haltungen, die in ihrer Qualität während der Morgentoilette entstanden zu sein scheinen. Und am Erstaunlichsten ist die vorgeblich eigene Haltung, die einem von solchen Leuten reingerieben wird: dümmliche Allgemeinplätze aus der aktuell allgegenwärtigen Propaganda.

Man lehnt sich zurück und fragt sich betroffen, wie andere Menschen glauben können, dass man sich stumpf auf solch schmale Bretter begäbe und kommt bestenfalls zu der Erkenntnis, dass sich genau diese Menschen wohl gar nicht die Mühe machen wollen, andere Weltbilder differenziert zu erfassen, weil sie alle Energie auf das Hinausdröhnen des eigenen Alarms verwursten.

Und das sind dann wieder die typischen, ganz schwachen Momente der sozialen Medien. Egal. Einmal kräftig schütteln und wieder Stellung beziehen, auch wenn wir trotz aller Posterei wohl doch nicht so viel Einfluss auf das Weltgeschehen zu nehmen scheinen. Hahaha.

Wichtig ist es jedenfalls, im Dialog zu bleiben, auch um immer wieder Maß zu nehmen und den eigenen Maßstab zu finden. Klugscheissen macht jeder von Zeit zu Zeit, nur das Abwischen sollte man dabei nicht vergessen. Und ein bisschen Demut hätte noch keinem geschadet.

Guten Morgen.

photo: US Defense Department:
"USAF c-17 'globemaster' has left Kabul with 800 passengers on board" ... jetzt wissen wir: es waren 640 (Danke Peter Leeb)

Bruno SchulzComment