Wenn Scherben nicht nur Glück, sondern Gold bedeuten.

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Von disruptiver Unternehmermentalität, oder:
Wenn Scherben nicht nur Glück, sondern Gold bedeuten.

Mein Freund der Thomas ist Unternehmer, Mittelstand, inhabergeführt. Wir debattieren schon viele Jahre über das, was er so macht: er macht vieles richtig und er machte vieles noch viel richtiger. Aber die Zeiten ändern sich. Und da geht es nicht nur um Corona, den Klimawechsel, Völkerwanderungen, weltweite Vernetzung, den immer weiter vorrückenden, jährlichen Erdüberlastungstag, die Überbevölkerung, die Arm-Reich-Schere, Fachkräftemangel, Veränderungen im Einkaufsverhalten, die überfällige ‚gender equality‘ und so weiter und so weiter und so fort. Jedes für sich schon ein Riesending, fügen sich alle zusammen zu einem eindringlichen Signal.

Es ist also allerhöchste Zeit, umzudenken. Und nein, es geht dabei nicht nur um Digitalisierung, um einen intelligenteren und effizienteren Umgang mit den eigenen Produkten oder Services und deren Vertrieb oder um eine Verdichtung des Markenkerns, eine Verjüngung der Unternehmensphilosophie und dessen Kommunikation in allen Kanälen. Überfällig ist ein Abklopfen aller Parameter und deren Beziehung.

Ich bin überzeugt: „Ein Zauberwort heisst ‚Disruption’.“ „‚Disruption‘?“ fragt der Thomas, „kenne ich doch längst, ist total ausgelutscht: disruptive Technologien? Davon hat mir der Berater von der IHK schon vor Jahren was erzählt …“ „… und hatte sicher recht damit, allerdings ist das zu kurz gesprungen. Das kann nicht mehr als nur ein Teilaspekt einer universal angelegten Strategie sein.“ „Wie meinst Du das?“ „Lass es mich versuchen, mit einem missbrauchten, weil modifizierten Aphorismus zu erklären. Stammt von Antoine des Saint-Exupéry:

‚Wenn Du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Männer zusammen, um Holz zu beschaffen, Aufgaben zu vergeben und die Arbeit einzuteilen, sondern lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten, endlosen Meer.‘“ „Das klingt gut, wird aber inzwischen wohl von allen Unternehmensberatern durch den Dreck gezogen.“ „Ich weiß, ich weiß … Sehnsucht reicht nicht, blablabla, Beratergequake … aber ich habe ja auch gesagt, dass ich das Zitat ein bisschen aufbohren muss. Es fängt schon damit an, dass heute ja gar keine Boote mehr aus Holz gebaut werden …“ „… im übertragenen Sinn …“ „Wirklich? Ich glaube nicht. Zunächst einmal bin ich persönlich überzeugt davon, dass rein gar nichts Herausragendes ohne Leidenschaft und Sehnsucht funktioniert. Und erst ab genau diesem Punkt müssen wir rückwärts deklinieren und die Dinge auseinandernehmen. Ohne Blick auf die Details ist das müßig.“

„Und damit meinst Du, dass wir die Steine erst einmal sehr weit werfen sollten, weil uns die Realität früh genug einholt.“ „Genau das. Meine Entwicklung kann ja kaum größer sein, als jeder einzelne Schritt, den ich mache. Wenn ich aber wie viele Unternehmer ihren Beratern folgte, baute ich nur äußerst langsam ein Steinchen auf das andere, eine verdammt mühselige Angelegenheit, bei der sich nur der Berater über seine bizarren Tagessätze freuen kann. Dabei kann übrigens nicht einmal disruptive Technologie entstehen, denn dazu müsstest Du erst einmal ein fernes Ziel formulieren, um vielleicht einen anderen Weg zu finden. Ich halte das alles für ängstlichen und gefährlichen Unsinn. Unternehmer brauchen Visionen …“ „… wer die hat, sollte zum Arzt gehen …“ „Ja, ich ahnte, dass das kommt. Helmut Schmidt in ganz anderem Sujet. Auch so eine wohlstandsbewahrende, verhaltensstarre Beraterschmonzette. Das Leben in Aspik. Wenn unsere Großväter so gedacht hätten, gäbe es die meisten Unternehmen heute gar nicht.“

„Also?“ „Ich glaube fest daran, dass es jetzt um eine Art ‚disruptive Unternehmermentalität‘ gehen muss mit allen Konsequenzen.“ „Und wie soll das funktionieren?“ „Das geht nur im Dialog. Dafür brauchen wir Zeit. Und dazu muss auch alles auf den Tisch!“ „Und dann?“ „Schlagen wir alles in Scherben …“ „… oha …“ „... hypothetisch natürlich, um die Dinge neu zusammenzusetzen. Es geht ja nicht darum, alles neu zu erfinden, das meiste ist schon da. Kennst Du Kintsugi?“ „Nein, erhelle mich …“

„Kintsugi oder auch Kintsukuroi stammt aus Japan und ist eine sehr alte Methode zur Reparatur von Keramik. Dabei wird der Keramikbruch mit Urushi-Lack geklebt. Wenn Stücke fehlen, werden sie durch Urushi-Kittmasse in vielen langsam aufgetragenen Schichten ersetzt. Dem Lack und dem Kitt werden Pulvergold, manchmal auch Platin beigemischt, was die charakteristische Struktur ausmacht, schau hier." Thomas staunt über die fotografierte Schale auf meinem Smartphone. "Die Grundidee dazu ist die Wabi-Sabi-Ästhetik. Die hat einen ganzheitlichen Anspruch und spreizt sich zwischen Metaphysischem, tradierten Werten, moralischen Idealen bis eben hin zur stofflichen Qualität des Objekts. Fokussiert wird die Einfachheit und eine Wertschätzung von Fehlerhaftigkeit. Und aus der Perspektive entwickelte man eben das Kintsugi. Eine Goldverbindung, die einen Makel hervorhebt statt ihn zu verdecken.“ „Makel. Das ist doch kein Makel?“ „Eben. Genau darum geht’s.“

Bruno SchulzComment