Erste Kapitel.

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‚Als ich mit einem letzten Glas die frühen Minuten jenes jungen Spätsommermorgens begrüßte ahnte ich, dass sich nun wohl vieles verändern sollte.‘

Will ich das tatsächlich so schreiben? Oder vielleicht doch lieber so: ‚Prost!‘ Um nachzusetzen ‚Bruno goss nach und hob sein Glas zum Morgen, der sich am Horizont zwischen den Dünen über der aufgewühlten See abzzuzeichnen begann.‘? Wohnt tatsächlich jedem Anfang ein Zauber inne? Hm, nicht unbedingt.

Erzähler oder Ichform, kurz oder lang, eine exlodierende Welt oder ein sich nur spröde spreizender Spalt? Mühselige Satzkonstruktionen, wie aus einem jener banalen Werkzeugkoffer für „kreatives Schreiben“, der Realitätsflucht laubsägevokabelnder Zivilisationsermüdeter mit Sendungsbewusstsein? Mein knappester Start in einen meiner Texte bislang überhaupt? „Zack!“ Und dann war der Leser auch schon mittendrin. Es lief aber auch schon mal ein erster Satz über die ganze Seite. Damit hatte ich dann die ganze Geschichte allerdings schon fast auserzählt. Es ging um eine Beziehung. Eine kurze. Man hätte sie auch in drei oder vier Zeilen beschreiben können, dann aber ohne boshafte Anekdote. Verschwendung.

Immerhin geht es um nicht weniger als den Einstieg in meine neue Buchidee von der Lust und der Last der ersten Kapitel. Die sind nur selten ein leichter Wurf. Schon die ersten Zeilen sind ausnahmslos Chance und Risiko zugleich. Eine Tür zu einer neuen Perspektive, die sich nicht allzu kompliziert öffnen lassen sollte. Ein Film der ins Rollen kommt vor dem inneren Auge. Das ist wie der frischgespülte Löffel, mit dem man sich sehr vorsichtig und bewusst einer bislang unbekannten Speise nähert. Sie besieht, beriecht, bepustet, vorsichtig beschmeckt. Kontakt aufnimmt. Und wenn das partout nicht klappen mag, gibt es schon im ersten Anlauf kein zurück mehr und kaum noch einen Blumentopf zu gewinnen. Da kann man nachwürzen wie man will. Das Spiel ist aus, „les jeux sont faits“. Und das bereits, bevor es überhaupt richtig anfangen durfte.

Die alten Chinesen bedeuteten einst mit Worten von Ewigkeitswert: „Jede Reise von tausend Meilen beginnt mit einem ersten Schritt“ und bereits der allererste Satz ist eine Miniatur des Ganzen. Überladen mit Erwartungen wie Verantwortung. Für den Leser wie den Autoren. Das gilt erstrecht, wenn der das eigentlich vermeiden will. Eine Reise fühlt sich kaum sicherer an, wenn man für ein unbekanntes Terrain auch noch ein unerprobtes Transportmittel wählt. Spannender vielleicht, aber dafür sind nur die allerwenigsten wirklich gemacht. Seien wir ehrlich, nicht nur der Schwabe beharrt: „einmal Daimler, immer Daimler“, was mühelos zu übersetzen sein sollte. Der erste Satz ist ein Aufschlag der, von Interesse retourniert, zum Abtausch führt. Kommt die Nummer nicht ins Laufen, ist die Aufmerksamkeit schnell dahin, die sich wie ein Gummi gerne dehnen lassen mag, aber ohne den nötigen Halt eben auch recht bald wieder zusammenschnurrt. Ganz wie ein P*nis zum Neujahrsanbaden am Strand des niederländischen Zandvoort in der klirrend kalten Nordsee.

Für den ersten Satz gibt es erheblich mehr gute Ratschläge als es tatsächlich gute Beispiele gäbe. Mein persönlicher Favorit ist knapp und stammt von einem der allergrößten Erzähler überhaupt. Herman Melville, der mit dem weissen Wal. Sein Moby Dick schwimmt los mit der ultrakurzen Formel „Nennt mich Ismael“. Drei Worte Ewigkeit. So gut, dass man sie einmal gelesen, nie wieder vergisst. Das kann man so nicht noch einmal machen. Jedenfalls nicht mit Leuten, bei denen der Trend zum Zweitbuch lange angekommen ist. „Nennt mich Bruno“? Lächerlich.

Im Jahr 2007 lief eine ziemlich großartige Kampagne der ‚Initiative Deutsche Sprache‘ in Kooperation mit der ‚Stiftung Lesen‘: „der schönste erste Satz“ und es ging um ebendiesen in der deutschsprachigen Literatur.

In der Einladung hieß es: „Der erste Satz ist wichtig. In der Liebe wie auch in der Literatur. Ein guter erster Satz entscheidet oftmals schon darüber, ob wir uns in einen Menschen oder in ein Buch verlieben, ob wir berührt werden und uns voller Neugier auf das Versprechen einer guten Geschichte einlassen.“

Hach, wenn es die Liebe nicht gäbe, man müsste sie glatt erfinden. Allein der Worte willen. Mehr als siebzehntausend Leser aus mehr als sechzig Ländern fühlten sich dadurch hinreichend inspiriert, ihre Liebste und ihren Liebsten zu bezeichnen und ihre Vorschläge in den Disziplinen ‚Romane‘, ‚Kinder-‘ und ‚Jugendbücher‘ einzureichen. Gekürt wurden die Sieger gut behütet vor herbstlichem Schmuddelwetter in der Alten Oper zu Frankfurt, also zum idealen Zeitpunkt zum Lesen eines guten Buches. Couch, Decke, Kamin.

Gewonnen hat: „Der Butt“ von Günter Grass, empfohlen vom Österreicher Lukas Mayrhofer. Der Wiener Literaturliebhaber ist vom Fach und überzeugte die Jury mit einem flammenden Plädoyer für die schnörkellose Schönheit: „Ilsebill salzte nach“. Da hat der Grass alle Register gezogen und alles richtig gemacht, kurz und knapp. Ein funktionierender, geschlossener Dreiworter in deutscher Sprache als Verbindung von Vergangenheit und Zukunft, garniert mit einem ungewöhnlichen Namen, der ein Riesenmärchenfass aufzureißen vermag. ‚Vom Fischer und seiner Frau‘: „Myne Fru, de Ilsebill, will nich so, as ik wol will“. Ein Name als Riesencollage ungezählter Motive. Was für eine Referenz direkt zu Beginn. Der Rest ist Geschichte, so und so. Siebenhundert Seiten Weltliteratur.

Den zweiten Platz erreichte übrigens Franz Kafka mit seiner Erzählung Die Verwandlung: „Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheueren Ungeziefer verwandelt.“ Eigentlich reicht das dann auch schon fast, wenn der Leser nur ausreichend Phantasie mitbrächte.

Bei den Kinderbüchern überzeugte Janoschs Erzählung ‚Lari Fari Mogelzahn‘: „In der Mottengasse elf, oben unter dem Dach hinter dem siebten Balken in dem Haus, wo der alte Eisenbahnsignalvorsteher Herr Gleisenagel wohnt, steht eine sehr geheimnisvolle Kiste.“ Im Grunde ist das wohl schon selbst das erste Kapitel in einem einzigen Satz, oder?

Aufgefallen ist mir dort noch der dritte Platz mit Ildikó von Kürthys Anfang ihres Romans ‚Blaue Wunder‘: „Entweder mache ich mir Sorgen oder was zu essen.“ Sie wählt einen Sprachwitz als Entrée. Auch nicht schlecht. Leider kennen wir den in etwa so schon vom legendären Kabarettisten und in Deutschland bekanntesten Kiffer nach Bob Marley, Wolfgang Neuss: „Heut’ mach ich mir kein Abendbrot, heut’ mach ich mir Gedanken“. Was soll’s, lieber nur halb so gut zitiert, als gar nichts zu lachen.

Sind sie das? Die Besten? Das hängt wohl schwer von der Jury ab, von den Einsendenden, von Übersicht und Tagesform, diesem und jenem. Zum Schluss bleibt es vermutlich immer ziemlich subjektiv, aber das Ding vom Grass ist schon wirklich ganz große Klasse.

Bei meiner Recherche im Thema bin ich auch auf eine Kolumne des über alle Maßen erfolgreichen Werbetexters Frank Schätzing in der Frankfurter Rundschau gestoßen. Der entblödete sich darin tatsächlich nicht anzumerken, es gäbe gar keine Standards für das Verfassen von ersten Sätzen, die man aus Creative-Writing-Workshops mitnehmen könne, um selbst mit einem Paradebeispiel aus ebensolchen, kreuzbiederen Checklisten nachzulegen, nachzulesen in seinem Millionenerfolg ‚Der Schwarm’: "An jenem Mittwoch erfüllte sich das Schicksal von Juan Narciso Ucanan, ohne dass die Welt Notiz davon nahm“. Schätzings Version der Genese kann vor anabolen Stereotypen kaum laufen. Geschehen sei die Jungfernbestäubung am Strand von Sylt beim Joggen, da hat es ihn einfach so angeflogen. Für den Nachfolger "Limit" durfte es dann kein geringerer als Frank Sinatra himself sein mit einem Ausschnitt aus dem Song, der uns schon in den Achtzigern regelmäßig in Trance fallen ließ, weil inzwischen selbst die unterirdischste Dorfdisco ihn zum Dienstschluß pflichtbewusst ableierte: "I want to wake up in a city that never sleeps". Und an dieser Stelle brach ich den Artikel ab, weil mir von nun an jede Kraft fehlen sollte für die eloquenten Expertisen des schreibenden Unterhosenmodels zu weiteren Proben im Sujet.

Dann gönne ich mir zur Ernüchterung halt einen Charles Bukowski. Rumms, da ist er, der weisse Rappe, eine Contradictio in Adiecto: Bukowski … ernüchternd. Ha! Bukowski brachte es verdammt oft auf den Punkt. In seinem Klassiker ‚Der Mann mit der Ledertasche‘ ging das so: „Mit einem Fehler fing es an“. Das ist sein erster Satz, so ganz und gar nach meinem Geschmack ohne fiebernde Namensphantasien um einen tropenwarmen Flamencotänzer.

OK, einen hab ich noch, den altbewährten Walter Moers in seinen ‚Die 13 ½ Leben des Käpt´n Blaubär‘: "Ein Leben beginnt gewöhnlich mit der Geburt, meines nicht“.

Das ist die Klammer vielleicht.

Und jetzt? Jetzt schreibe ich lauter erste Sätze und erste Kapitel, weil es eine Lust ist. Wieder und wieder und wieder. So oft es eben geht, aber mindestens einmal pro Woche. Damit es vorangeht in meinem Buchprojekt Und wer mag ist dabei, fühle sich eingeladen, darf mich antreiben und begleite mich darin.

Achtung, fertig, los.

Bruno SchulzComment