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„merry crisis and a happy new fear“?

Das als Meme inflationär verteilte „malmot“ eines kreativen Aktivisten, das sich so frisch und zeitgemäß goutieren ließe, ist inzwischen auch schon wieder erstaunliche dreizehn Jahre alt, zierte einst eine Hauswand in Athen und stammt ursprünglich aus der Hochzeit der griechischen Staatsschuldenkrise.

Ja, da war mal was und das ist eigentlich auch noch gar nicht so lange her, wenn man’s recht bedenkt. Als sich vor allem deutsche Banken an der Rettung der Wiege der europäischen Kultur gütlich taten und die Griechen dafür als Klatschkasper herhalten mussten. Als sich der Hans aufregte, für den Kostas zu schuften und eigentlich war‘s ja doch ganz anders. Wie so oft. Immer besser, man schaut da mal etwas genauer hin.

Der spontane Anlass der Ausschreitungen vom Dezember 2008 war übrigens der Tod eines fünfzehnjährigen Schülers Alexandros Grigoropoulos, erschossen durch den Polizisten Epaminondas Korkoneas. Das hier nur als Randnotiz für den Augenblick kurz vor dem Vergessen, wenn einem mal wieder jedes nüchterne Verhältnis zu entgleiten droht zu den eigenen Verhältnissen.

Wir drehen durch den zweiten Coronawinter und das fühlt sich für ganz viele eben nicht gut an. Menschen haben echte, ernstzunehmende Ängste um ihre Existenzen und manche entwickeln bedauernswerte pathologische Phobien, oft eingebettet in politisches Kalkül derer, die an Spaltung und Instabilität zu profitieren trachten. Vielleicht liegt es einfach auch daran, dass ein Virus so furchtbar schlecht zu greifen ist. Als Bedrohung real und abstrakt zugleich. Damit scheinen einige derart überfordert zu sein, um darauf kontraproduktiv zu reagieren. Intellektuell, emotional, hirnorganisch. Der Schweizer Autor Max Frisch attestierte kurz vor seinem Tod im Jahr 1991 vollkommen desillusioniert: „Am Ende der Aufklärung steht das goldene Kalb“. Das ist dreissig Jahre her und hatte nie mehr Gültigkeit als heute. Es muss etwas passieren. Holt sie zurück, es nutzt ja alles nichts, wir können uns das so nicht leisten.

Da war die Flut an der Ahr im letzten Sommer eben doch sehr viel gegenständlicher, deren Folgehandlungen als Musterbeispiele an aufrichtiger Empathie und anpackender Solidarität glänzen mochten. Man kann baggern, spaten, räumen, bauen und sieht Ergebnisse. Die Gesellschaft zeigte sich von allen Schokoladenseiten. Die Bekämpfung einer Pandemie ist erheblich komplexer und da sehen viele schnell rot oder doch gleich schwarz.

Nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe und dazwischen ist Champagner. Besser wir gewöhnen uns daran, lernen damit umzugehen und die schönen Momente bewusster zu genießen.

Und hey, außerdem hatten wir seit über fünfundsiebzig Jahren keinen Krieg mehr in Zentraleuropa, wenig Hunger und kaum autochthones Elend. Wir können sogar anderen helfen. Könnten. Das ist großartig und kein bisschen selbstverständlich, wenn man es wagt, über den Tellerrand hinauszublicken in die Welt. Auch wenn das nicht allen schmeckt und manche sich bereits selbst in Kalkutta wähnen, was sie aus Peter Scholl-Latours berühmtem Zitat hochnotdringlich auf ihre Gegenwart verzerrbildnern. Nach zehn Jahren eigenen Engagements in Projekten der internationalen Entwicklungshilfe, empfehle ich zur Selbsterdung eine Visite in den Slums und Sweatshops von Dakar bis Phnom Penh, das relativiert vieles.

Klima und Co. lasse ich heute lieber raus. Denn da bleibt viel zu Vieles im Vorgestern, das besser schon heute ans Übermorgen glauben lassen sollte. In Glasgow manifestierten die Russen und die Chinesen ihr Desinteresse an jedem gemeinsamen Engagement zur Weltenrettung, Indien stellte sich mit der Perspektive 2070 mit beiden Füssen auf die Bremse und Amerika vertraut lieber auf Gott, den Allmächtigen. Keine schöne Erfahrung für deutsche Wähler, die so gerne glauben wollen, mit ihrem Votum an Urne, Warenkorb und in den sozialen Medien global wirken zu können. Aber kann Aufgeben deshalb zur Option werden? Auch hier gilt: besser nicht.

Politik? Jetzt nicht. Scholz wurde für die, die es vielleicht vergessen haben, erst am 8. diesen Monats, demnach vor zweiundzwanzig Tagen vereidigt. Zweiundzwanzig Tage. Ganze drei Wochen. Das ist nicht wirklich viel Zeit, ein großes Rad zu drehen. Außer vielleicht aus der holistischen Expertensicht der Myriaden Bundestrainer, -epidemiologen, -klimatologen und -politikberater an ihren analogen wie virtuellen Stammtischen, die uns nicht zuletzt hier auf F*cebook regelmäßig mit ihren Universallehren verwöhnen, um sich selbst irgendwo zwischen einer Merkeldiktatur und einer Art Scholzkalifat eingekesselt wahnzuwichteln. Versuchen wir doch besser halbwegs besonnen, ihm und seiner Mannschaft die so berühmten wie sinnvollen 100 Tage Karenzzeit einzuräumen, bevor wir ab dem 18. März des kommenden Jahres wieder kritische Aufsicht üben.

Und wir selbst? Unsere Agentur schulzundtebbe wurde im Sommer 2021 „volljährige“ achtzehn Lenze jung. Kaum zu glauben: wir schlingerten die letzten beiden Jahre in schwerem Seegang. Und man kann von Glück sagen, dass unsere erste große Krise zeitlich schon vor Corona einzuordnen war und unsere Transformationsprozesse bereits eingesetzt und manche schon gegriffen hatten. Trotz allem kostete und kostet das noch viel Schweiß, Tränen und schlaflose Nächte bis tief in diesen Herbst hinein. Und sämtliche Rücklagen. Dafür mussten wir aber auch niemanden in Teilzeit schicken oder gar entlassen, sondern konnten volle Kraft liefern, als wieder volle Kraft gefordert war. Das zahlt sich heute aus: nach mehr als vierundzwanzig Monaten wirtschaftlicher Kopfschmerzen und einem Tanz auf Messers Schneide.

Und dazu noch die fürchterlichen persönlichen Verluste. Ich mag meine emotionalen Nekrologe um die so sehr Fehlenden an dieser Stelle nicht erneuern. Stattdessen blicke ich lieber auf eine sorgenärmere Zeit zwischen den Jahren und genieße den Ausblick in ein frisches Jahr mit einer Menge konkreter Aufgaben und Projekte und interessanter Perspektiven. Raus aus dem Aspik. Schluss mit zäh.

„merry crisis and a happy new fear“? Och nö. Lieber halten wir es heute mit den Fehlfarben: „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht ... es geht voran!“

Beenden wir das alte Jahr heute mit "neuen" Vorsätzen, um das Neue morgen mit „alten“ Gewohnheiten zu beginnen? Lieber nicht. Am besten beginnen wir das neue Jahr mit einem Traum, froh und mutig, vielleicht ein bisschen bewusster, aber sicher nicht protestantisch verhärmt mit uneinlösbaren Aufgabenlisten und engsichtigen Checklisten, die wie von Zauberhand noch vor Mitternacht Schnee von vorgestern werden.

Mehr Morgenluft ist wohl das, was viele jetzt brauchen: Sekt statt Selters, statt barfuß lieber Lackschuh! Ich hoffe, Ihr macht mit.

Liebe alle, Euch einen guten Rutsch in ein positives 2022. Ich freue mich. Schön, dass Ihr da seid.

Bruno SchulzComment