Der Ruf der Gosse

„Der Geist der Gewalt ist so stark geworden,

weil die Gewalt des Geistes so schwach geworden ist.“

Das hat der schweizer Theologe Leonhard Ragaz in den späten Dreissigern des letzten Jahrhunderts aufgeschrieben und es passt nur wenig erstaunlich gut in unsere Zeit.

Am letzten Wochenende wurde der Watschenbaum kräftig geschüttelt und die Reaktionen darauf waren in Teilen erheblich bemerkenswert.

Nicht wenige feierten das Diktat der Gosse, auch solche Leute, bei denen man bislang annehmen musste, sie wären in der Evolution und Wahl der Mittel zur Konfliktvermeidung, -behebung und -lösung aus dem Allergröbsten raus. Pustekuchen!

Weichbrote erkennen in sich Charles Bronson, der gerne mal „rot sah“. Verständlicherweise, klar. Der fade Sachbearbeiter als Rächer der Witwen und Waisen. Da wird geträumt, was man dem Chef zu sagen nicht wagt. Dem Arsch. Aber sicher. „Hätte, würde, könnte“ … Gratismut und Maulheldentum fluten die sozialen Netze. Einen Kommentar lang harte Wurst sein. Wenigstens das. Als Kerl unter Kerlen. Man möchte gar nicht glauben, dass es in Zentraleuropa Herausforderungen mit mangelnder Zivilcourage gibt. Aus multipler Eigenerfahrung weiß ich das allerdings leider besser.

Und der Reigen rotwangiger Akademikerinnen, die in ihren Burgen wohl immer noch auf den segelohrigen Prinzen warten, der zur monogam bindungssehnsüchtigen Gunstbezeugung jeden Widersacher entlebt, ob Mann, Maus oder Drachen. Man möchte solche Bräute nicht zur Seite haben, wenn es mal wirklich Ärger gibt und die Hormone wieder das Kommando über das Denkorgan ergreifen.

Nicht unterschlagen darf man den nicht unerheblichen, prekären Teil unserer Gesellschaft, der es völlig normal und stabil findet, wenn ein dicklicher Lachbruda, Guccihandtaschenträger und Sprechsänger sich konkret und offensichtlich geplant von seinesgleichen in Sehnsucht nach organischer TikTok-Reichweite dabei videographieren lässt, während er einem semiprominenten, spargeligen und wenig wehrhaften Fernsehkomödianten eine schmiert für dessen durchaus verständliche Haltung gegenüber Gewalt gegen Frauen oder den mutmaßlichen Vergewaltigerkumpel, den es mit dieser Aktion zu rächen galt. Ekelhaft. Pocher muss einem nicht schmecken, ich kann ihn nicht einmal beurteilen, aber wer diesen Rinnsteingangsterehrenkodex abfeiert, ist in der Geisterbahn sozialisiert worden und braucht mehr als einen guten Therapeuten zur Reorganisation der verbliebenen Zivilisationsschnittstellen.

Alles in allem ein schöner Lackmustest, wo wir gerade so stehen und ein sicheres Zeichen dafür, dass sich wohl doch erheblich weniger bewegt hat, als viele annehmen mochten. Die Mühlen der Evolution mahlen gemächlich. Und wie ich nach zwei Jahren Corona am vergangenen Samstag auf einer Naturweinmesse statuieren musste: ich bin für die Gesellschaft vieler Menschen nicht mehr gemacht. Destination Nordjütland. Ich zähle die Tage.

Bruno SchulzComment