Am Strand.

Derzeit verbringe ich, wie beinahe in jedem Jahr, ein paar Tage erholsamer Sommerfrische im dänischen Nordjütland.

Zum ersten Mal expedierten mich meine Eltern hierher im zarten Alter von 8 Monaten in einem weissen Opel Rekord mit erheblichen Konstruktionsmängeln. Letztere wurden zu einem der oft gesungenen Mantras meines Vaters, wann immer unsere frühen motorisierten Ausflüge später zum Vortrag kamen. Ich recherchiere noch entsprechend belegende Lichtbilddokumente aus seinem nachgelassenen, unerschöpflichen Fundus. Er war ein großer Sammler. Möge er in Frieden ruhen.

Meine erste Nordlandfahrt ereignete sich also im August 1966 und man musste damals noch unzählige Brücken und Fähren passieren, um endlich anzukommen. Erst zwei Jahre später kam der erste Spatenstich zum Baubeginn des Elbtunnels zu Hamburg, der den Weg künftig erleichtern sollte, wenn er denn nicht gerade bestaut oder mit sicherem Instinkt rechtzeitig zur Haupturlaubsreisezeit und zum samstäglichen Bettenwechsel in Skandinavien gleich ganz gesperrt wurde und den blechernen Lindwurm durch die zahllosen Flaschenhälse und Nadelöhre der Hansestadt zwang.

Wohlgemerkt, damals gab es Flugreisen nur in äußerst homöopathischen Dosen und Rømø entwickelte sich gerade zum Sylt des kleinen Mannes. Die Insel direkt hinter der Grenze hatte nur wenig zu tun mit den noch sehr kargen Verhältnissen nördlich von Aalborg. In den schlichten Katen an der Jammerbucht bekam man noch eine gute Vorstellung davon, wie wohl das karge Leben der einfachen Fischer zur Jahrhundertwende ausgesehen haben muss und wie der Küstenstrich zu seinem Namen kam.

Warum überhaupt Dänemark? Wahrscheinlich, weil mein Vater als Flüchtlingskind einige Jahre seiner Kindheit und Jugend in einem Lager nahe Klanxbüll unweit von Husum verbringen musste und der Kontakt zu einer ihm zugetanen, freundlichen und großzügigen, dänischstämmigen Familie im näheren Umfeld in dieser harten, freudlosen Phase in den Baracken ihn für alle Zeiten prägen sollte. Ein Kontakt, den er noch bis ins hohe Alter halten wollte und konnte.

Drei Jahre später nach meiner ersten Fahrt, sollten sich meine Eltern einen leuchtend roten VW Bulli anschaffen, der selbst ausgebaut wurde und mit einem Reserverad wie eine Gallionsfigur am Bug ausgestattet war. Abenteuer pur und im damaligen Verkehrsbild als privates Expeditionsfahrzeug eine wahrhafte Ausnahmeerscheinung. Man stelle sich meine Mutter Wini am Volant vor und Großmutter Alwine, Jahrgang 1894, auf der Beifahrersitzbank. Die beiden kannten keine Konventionen und ließen sich schon gar nichts vorschreiben. Meine Mutter ist heute dreiundachtzig Jahre alt und in ihr brennt noch immer das Herz einer renitenten „Anarchistin“. Gut so!

1970 kniete Willy Brandt in Warschau und bat Polen um Vergebung für die deutschen Kriegsverbrechen, Tonga wurde unabhängig von Großbritannien und Allende Präsident von Chile. Mit unserem roten Bus ging es nach Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland, bis weit hinter den Polarkreis. Die Pässe rauf und runter. Mit zornigen fünfzig Pferdestärken, mehr oder weniger. Für mehrere Wochen. Zu viert und ohne Hochdach, denn inzwischen war meine Schwester geboren. Ich erinnere mich an eine spezielle Übernachtung mit Zähneputzen und sehr kaltem Bad am Strand zwischen Blockhus und Løkken, um am kommenden Tag die Fähre von Hirtshals nach Kristiansand zu erreichen.

Das Campieren am Strand war natürlich schon damals bei Strafe verboten und wir fühlten uns wild und frei, als Renegaten auf den Spuren einer romantischen Version von Fletcher Christian nach seiner Meuterei auf der Bounty, mindestens.

Heute, mehr als fünfzig Jahre später, inzwischen habe ich noch gut fünfundzwanzig Sommer mit meinem besten, viel zu früh verstorbenen Freund und unseren Familien hier in Nordjütland verbracht und zusammengerechnet bald zwei Jahre meines Lebens, stehe ich schon wieder hier und denke lieber an die guten, als an die traurigen Zeiten.

Aus dem T1 ist ein T6.1 geworden. Der hat immer noch kein Hochdach, aber diesmal eine Markise. Und eine Küche als Heckauszug. Früher war auch schön, aber weniger komfortabel.

Mein Foto davon postete ich als Gruß in den sozialen Medien. Und erhielt als Replik die Frage einer neugierigen Mitleserin, ob es hier üblich und erlaubt sei, dass man mit dem Auto an den Strand fährt? Ob das nicht die Ruhe störe und die Idylle? Und wie das mit unserer Bassethündin Wilma sei, man müsse ja sicher aufpassen, dass sie nicht unter die Räder käme. Oder ob es eher wenige Autos seien? Sie könne sich das gar nicht vorstellen, gibt aber auch offen zu, noch nie in Dänemark gewesen zu sein. Die Fragen sind freundlich, das kenne ich dazu auch anders.

Ja, bemühe ich mich sachlich zu erläutern. Es ist üblich und es ist erlaubt und es ist für die Einheimischen vollkommen selbstverständlich:

Der Strand zwischen Løkken und Blockhus ist mehr als 20 km lang und an manchen Stellen mehr als 200 Meter breit. Die Wege sind mitunter sehr weit. Es gehört zur dänischen Strandkultur, die ganze Familie mitzunehmen und alles was man an einem langen Strandtag brauchen könnte: Sportgerät, Essen und Trinken, Liegen, Stuhl und Tisch, Kleidung für alle Wetterbedingungen, dies und das.

Nordjütland ist nicht Mallorca, das Wasser hat selten mehr als 17 Grad, oft gibt es starken Wind, für den man einen Windschutz braucht. Manchmal muss man sich aufwärmen. Man kann hier kein Handtuch auf den klammen Sand legen, um unter einer Kunstpalme Schatten zu finden.

Wie man auf meinen Bildern unschwer ausmacht, stehen hier Autos in homöopathischen Dosen mit großem Abstand. Die oft gehörte Parkplatz- oder Autobahnrastplatzmetapher stößt quälend ins Leere und dokumentiert allenfalls die Ahnungslosigkeit der Reflexempörten. Die Leute hier sind freundlich, fahren sehr langsam, sind zuvorkommend. Es ist selbstverständlich, dass man alles, was man mitbringt auch wieder mitnimmt. Zuhause in Deutschland schaffen sie das nicht einmal in den Freibädern trotz allgegenwärtiger Mülleimer.

Der Geräuschpegel am Strand geht gegen Null, mal abgesehen vielleicht vom Wind und den Möwen. Und die Wilma kennt das alles von klein auf. Hunde dürfen am dänischen Strand ohnehin nicht frei laufen. Dafür gibt es viele gute Gründe, auch wenn manche Fellnasenfreunde an dieser Stelle hysterisch aufheulen werden. Die Wilma läuft dennoch oft frei und keiner beschwert sich, weil sie sich benehmen kann. Und wiegesagt: die Leute achten einander und auf einander. Es ist ein Geben und Nehmen.

Zu alledem wird der Sand verdichtet und dem gierigen Landfraß von Wind und Nordsee vorgebeugt.

Gestern hatte sich eine junge Familie mit zwei kleinen Kindern festgefahren. Schnell waren ein paar Leute da, um zu helfen. Ganz unkompliziert und danach ging man wieder seiner Wege.

Und nächstes Jahr? Komme ich wieder, wenn ich kann und darf. Und hole wieder ganz tief Luft.

Bruno SchulzComment