Mit „Zeugen“ überzeugen?

(Tagebucheintrag aus dem Spätsommer 1988, neu aufgeschrieben 2013, inzwischen zeitlich angepasst)

Vor vielen Sommern, es ist schon über dreissig Jahre her, als ich in den späten Achtzigern des letzten Jahrhunderts noch für ein paar Semester im Rahmen meines mehr oder weniger freiwilligen „studium generale“ als elastischer, junger und unbedarfter Student der Publizistik, der Politikwissenschaften, der Romanistik und der Kunstgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz eingeschrieben war und zur Strafe eine ärmliche Souterrain-Butze an einer heftigst befahrenen Bretzenheimer Durchgangsstraße behauste, klingelten eines Tages die Zeugen Jehovas mit gewaltigem Nachdruck an meiner Tür.

Ich stand gerade ebenso herzhaft singend wie frisch beschaumt, ausgezeichnet aufgelegt unter meiner schäbig gefliesten Prilblumenbrause hinter einem dieser mikrobiologisch auffälligen Kunststoffvorhänge, die so zuverlässig wie unangenehm augenblicklich am Körper haften.

Das Dingdong löste bei mir zunächst flirrende Erwartungsfreude aus, denn ich musste annehmen, da stünde bereits meine zeitlich verfrühte Verabredung, eine flüchtige Mensabekanntschaft, mit dem Zeigefinger bebend vor der Schelle in frohlockender Aussicht auf unsere gemeinsame Qualitätszeit.

Ich eilte also im Frotteebademantel duschfeucht dampfend wie ein Schulpferd nach winterlichem Ausritt an die Pforte und empfing dort, nicht schlecht erstaunt die hyperrealistischen Abziehbilder von Margot und Erich Honecker mit ihren naiv illustrierten und spießig miefigen Gesinnungsfibeln rund um das Erwachen.

In einem situativen Lustanflug auf surreales Mitmachtheater ohne Einverständniserklärung - mit klappt das nie in einer solchen Besetzung - hatte ich die beiden tatsächlich hereingebeten in dem superkreativen Gedanken, sie meiner nahezu zeitgleich erwarteten, 'neuen Flamme‘ als ihre künftigen Schwiegereltern vorzustellen. Da sich keine der Parteien, einschließlich mich tatsächlich kannte, hielt ich das für ein megaspannendes, wenn auch riskantes Improvisationskonzept. Ja, ich fand das lustig. So irgendwie.

Also plazierte ich die beiden essigsauer grienenden, spirituellen Motivationsstrategen auf meiner Couch, um sogleich mit einer kleinen Entschuldigung den Raum zu verlassen. Sie mussten annehmen, dass ich mich zurückzog um mich anzukleiden, aber ich holte nur an meiner damals, in Ermangelung von Sachkenntnis wie ledig an ökonomischen Freiräumen, eher lückenhaft sortierten Bar drei ungleiche Stamperl aus dem Mitnahmebestand und eine Flasche klaren Fusel, die irgendwann nach einer Party bei mir ein neues Zuhause gefunden hatte, um - immer noch im Bademantel - barfuß an den Wohnzimmertisch zurückzukehren und mit den Worten einzuschenken: „na dann erzählen Sie mal“. Zwei weit aufgerissene Augenpaare ruhten auf mir und eine Redepause in Aspik, eine Atmosphäre so schwer wie ein Mühlstein.

Ich verrate wahrscheinlich nicht zuviel, wenn ich hier schon mal gestehe: die Aufführung floppte kolossal. Es lag vermutlich nicht nur am Angebot der Erblindungsspirituose, dass keine echte Stimmung aufkommen wollte. Leider funktionierte auch die fein ersonnene Pointe nicht so richtig, als meine Bekannte eintraf, mochte die nach der zugegebenermaßen etwas bizarren Vorstellungsrunde dann doch nicht mehr meine Freundin werden. Überall nur Missverständnisse, alles in allem ein einziges Kommunikationsdesaster lange vor Facebook und Co., das mich noch für lange Zeit in meinem privaten Verhältnis zu den Zeugen Jehovas belasten sollte.

Was allerdings vom Tage übrigblieb, war immerhin eine Anekdote von persönlichem Ewigkeitswert, die ich Euch heute vortragen durfte.

Bruno SchulzComment