Blaues Wunder

„Alkohol und Nikotin
rafft die halbe Menschheit hin.
Doch ohne Suff und ohne Rauch,
stirbt die andere Hälfte auch.“

Wann genau ist es eigentlich in Mode gekommen, sich für etwas feiern zu lassen, das doch vorgeblich gar keiner Anstrengung bedarf? Inzwischen liest man spätestens jeden zweiten Tag in der Presse wie den sozialen Medien mal mehr und mal weniger prominente Abstinenz-„Outings“, nicht selten zeitgeistig getextet, bildhaft, provokant, manchmal lustig, regelmäßig moralüberheblich, gerne zeigefingernd, oftmals sedierend deckungsgleich. Immer zeichnen sie die Hieronymos-Bosch-hafte Apokalypse eines omnipräsenten, rasant eskalierenden, kollektiven Alkoholabusus. Deutschland im Suffinferno. Schussfahrt.

Ist das denn richtig? Die Statistiken der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sagen etwas ganz anderes und beide stehen nicht eben in Verdacht, als Lobbybuden der internationalen Spritkartelle Public Relations zu machen. In der Realität ist der Alkoholkonsum seit vielen Jahren stramm rückläufig. Also in der Echten, nicht der Gefühlten. Alfred Uhl arbeitet als Fachmediziner am Anton-Proksch-Institut in Wien, einer der größten Suchtkliniken in ganz Europa. Er statuiert: "Alkohol ist noch immer das beliebteste Rauschmittel, aber der Konsum nimmt stark ab. Räusche wurden früher eher toleriert als heute." Aha?

Leider fällt diese Informationen ständig hinten runter. Vermutlich ist das der Tatsache geschuldet, dass die Enthaltsamkeitspostulate fast allesamt als Kolumnen verkleidete Aretalogien auf die Autoren selbst daherkommen. Und ihre Claqueure frohlocken in den Threads wie die Gospelchöre der Südstaatenbaptistengemeinden für das kleine bisschen Sternenstaub und den Ablass. Hosianna.

Ich möchte nicht einmal ahnen, auf welche Art von Partys diese Leute dauernd eingeladen werden, dass sie ständig mitsaufen sollen und müssen, wie 'Candy' bei den 'Spring Breakers'. Man hat das allenfalls noch aus steinalten Aussendienstlerammen in Erinnerung, die in den Nächten ihrer messebegleitenden Exzesse an den Absturztheken der allerletzten Abschleppschuppen von gefallenen Engeln zum Blubbersaufen animiert und gepresst wurden: Flasche Faber zu fünfhundert Mark. Naja, jeder sucht und findet die Freunde, die er verdient.

In meinem Umfeld konsumieren allenfalls die Hälfte der Leute überhaupt noch Alkohol und da geht es fast immer um Wein in Maßen. Nein, nicht in Maßkrügen. Mäßig lustig. Abgestanden. Echte Trinker sind darunter heute echte Exoten. Ich kann die leicht an einer Hand abzählen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass das Saufen im professionellen Kontext heute weitestgehend tabu ist. Zauberwort: 'Compliance'. Saufverbot am Arbeitsplatz. Abgesehen von Brauereien, Destillen, Weingütern, gastronomischen Betrieben und - offenbar immer noch - Redaktionsstuben. Das hat Konsequenzen.

Im Grunde läuft es heute tatsächlich den müden Anekdoten der Kolumnisten von der vorgeblichen Zwangsbetankung diametral entgegen. Wer mittags den Gruß aus der Küche als Meeresfrüchtesalat mit einem kleinen Gläschen Crémant oder Champagner als Gruß an die Küche retournieren mag, kennt die plötzliche Stille im Lokal und die fassungslosen Blicke von den anderen Tischen, die einen Paria werden lassen. Bereits ein kleines Piffchen Grenache zum Mittagsmenü, früher selbstverständlich, nährt heute schon den Verdacht, Dauergast der Betty-Ford-Klinik zu sein. „Hat der sein Leben noch im Griff?“ „Wie schafft der es noch, seinen Laden zu führen?“ „Wie kann es eine Frau nur mit einem solchen Menschen aushalten?“ Wer abends mehr als ein Glas Wein bestellt, vielleicht sogar eine Flasche oder zwei, gilt schon als Junkie-Dealer-Kombi, der andere anfixt, um sie mit ins Unglück zu reissen. Es ist reines Glück, dass ich für meinen Konsum, der übrigens noch lange keinen Händler glücklich macht, nicht meinen knabenhaft zarten, von der Zügellosigkeit gezeichneten Körper hinter den Bahnsteigen feilbieten muss.

Spaß beiseite, natürlich gibt es in unserer Gesellschaft ein Problem mit Alkohol und kein Geringes. Aber es gibt ein ebenso Großes mit der zwanghaften Polarisierung in fast allen Bereichen. Wo ist der Ausgleich, die Moderation, die Mitte?

Glaubt Ihr tatsächlich, dass die ständigen 'Heldenreisen' aus der Ich-Perspektive missionarisch wirken wollen? Nein. Die sind nicht einmal leidiger, weil dysfunktionaler Exorzismus, aber nerviges Dauerschulterklopfsolo, weil‘s anscheinend sonst keiner macht. Liegen Glück und Zukunft der Zivilisation wirklich in der Nähe zum eigenen Habitus? Ach, bitte! Gesundheit!

PS: wenn Euch nichts anderes einfällt, schreibt doch mal von einem lustigen Erlebnis mit Eurem Haustier, Hund oder Katze - scheißegal. Das lesen die Leute mindestens ebenso gerne.

Bruno SchulzComment