Willkommen in meinem Post!

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Schreibe ich über Wein, bin ich Alkoholiker oder verhöhne das Suchtproblem in unserer Gesellschaft. Kritisiere ich eine Musikerin, werde ich per se als misogyn deklariert, weil es jetzt binnen 10 Jahren schon zum zweiten Mal „gegen eine blonde junge Frau geht“. Spreche ich einem, in Berlin von einem palästinensischen Kommilitonen ins Krankenhaus geprügelt und getretenen, schwer verletzten jüdischen Studenten mein Mitgefühl aus, gelte ich als islamophob. Gedenke ich der vergewaltigten, geköpften, gefolterten, sinnlos ermordeten eintausendvierhundert Zivilisten vom 7. Oktober, macht mich das zum xenophoben Arschloch. Schreibe ich davon, dass ich es eklig finde, wenn sechzigjährige Krawallsänger nachgewiesenermaßen fünfzehnjährige Adorantinnen in den Beischlaf manipulieren, macht man mich zum Feind der 'Unschuldsvermutung‘ und Sargnagel unseres Rechtsstaates. Plaudere ich über mein Leben mit einem Bassethound, werde ich zum Katzenhasser und memoriere ich ein nettes Erlebnis mit einem sympathischen Katzentier, bin ich - na klar - ein Hundefeind. Muss man mir mangelnde Toleranz gegen BDSM attestieren, weil ich meine subjektive Abneigung gegen Gewalt zum Ausdruck bringe? Bin ich ein verkommener Misanthrop, weil ich mich über den Trend zur Gesichtstätowierung wundere, die Angleichung von Antlitz und Klassenbank? Bin ich transfeindlich, weil ich den organisierten, direkten sportlichen Wettstreit zwischen ehemaligen Männern und biologischen Frauen für keine gute Idee halte? Fröne ich dem Ageism, weil ich erstaunt bin über die Seniorendichte in meiner Edekafiale außerhalb der typischen Arbeitszeiten? Bin ich numismatikerfeindlich, weil ich das Münzenabzählen an schlangenbewährten Supermarktkassen als übergriffige Meditationsübung auszeichne? Was sich alles mühelos und unendlich fortsetzen ließe.

Ein nicht unerheblicher Teil der Menschheit leidet offenkundig an einem massiven „Projektionsdefekt“ oder vielleicht an einer Art inhaltlicher „Umkehrneurose“. Das mag zum einen daran liegen, dass sich die Leute keine vollständigen Texte mehr reinziehen wollen, sondern lieber auf ein paar typische Trigger reflexen, um ihre multiplen Unpässlichkeiten in einem haltlosen Unterstellungsbäuerchen abzuseiern, oder möglicherweise auch daran, dass heute erst gar nicht mehr gefragt oder debattiert, sondern lieber gleich gekotzt und getortet wird. Und das mit einem erstaunlich moralverbindlichem Selbstverständnis. Scio nescio? Kein Thema mehr in einer Gesellschaft, in der alles nur noch binär bewertet wird nach bequem vorgegebener Schablone. Ist ja auch leichter so. Die guten Pointen hängen längst als Trophäensammlung an der Wand. Ohne Löcher. Man hat sie lieber gleich im Keim erstickt.

Manchmal denke ich, wie gut, dass ich schon fast sechzig Jahre alt bin und hinreichend Zoten gerissen habe. Heute reicht es mir fast, dass ich mich mit Gleichgesinnten daran erinnern kann. Noch. Bevor die Gnade der Altersamnesie davon Besitz ergreift. Fast. Wiegesagt.

Bruno SchulzComment