Schreiben.
„Warum man schreibt, ist eine Frage, die ich leicht beantworten kann, da ich mich das so oft selbst gefragt habe. Ich glaube, man schreibt, weil man eine Welt erschaffen muss, in der man leben kann. Ich konnte in keiner der Welten leben, die mir angeboten wurden (…)
Wir schreiben auch, um unsere Kenntnis des Lebens zu erweitern, wir schreiben, um andere zu locken und zu verzaubern und zu trösten, wir schreiben, um unseren Liebsten ein Ständchen zu bringen. Wir schreiben, um das Leben doppelt zu kosten, im Augenblick und in der Rückschau. Wir schreiben, (…) um die Dinge zu verewigen und uns zu überzeugen, dass sie ewig sind.
Wir schreiben, um die Grenzen unseres Lebens zu überschreiten, um darüber hinaus reichen zu können. Wir schreiben, um uns selbst zu lehren, mit anderen zu sprechen (…)“
Das antwortete Anaïs Nin, als ein Kollege sie und andere über die Gründe des Schreibens befragte.
Vor etwa einer Million Jahren hatten wir den ersten mehr oder weniger bewussten Kontakt mit Feuer. Vor etwa sechshunderttausend Jahren bekamen wir das Feuer einigermaßen unter Kontrolle. Seither grillen wir, weil gegrilltes Fleisch eben besser schmeckt. Seit ungefähr zweihunderttausend Jahren sitzen wir als Jäger und Sammler abends zusammen um das Feuer und erzählen uns Geschichten. So entsteht Nähe, Vertrauen und Zusammenhalt.
Wir wurden und werden ständig mit neuen Eindrücken und Erfahrungen konfrontiert. Darum ist das bloße Erleben von Ereignissen oftmals unzureichend. Es ist eben nicht immer genug, diese Momente zu sammeln oder sie flüchtig zu genießen; oft ist es mindestens genauso wichtig, sie zu reflektieren, schriftlich festzuhalten und zu teilen. Denn bestenfalls bereichert der Prozess des Niederschreibens von Erlebnissen nicht nur uns selbst. Eine starkes Fazit, eine gute Pointe werden selbst zum Erlebnis für andere.
Das Schreiben bietet regelmäßig die tiefere Auseinandersetzung. Oft nimmt man im Alltag eine Menge Dinge nur reichlich oberflächlich mit. Wenn man sich jedoch die Zeit gönnt, zurückzublicken und die Erlebnisse in Worte zu fassen, erkennt man nicht selten Details, die einem beim unmittelbaren Erleben entgangen sind, oder die der Realität einfach fehlten, die den schlichten Bericht durch Ergänzung dann aber zu einer richtig guten Geschichte abrunden könnten: Was genau ist Authentizität? „Corriger la fortune“ - so haben alle Spaß daran.
Das Teilen von Anekdoten hat eine transformative Kraft. Geschichten inspirieren und verbinden. Wenn man seine Erlebnisse verschriftlicht und verbreitet, schafft man Brücken, die individuelle Erfahrungen in einen gemeinschaftlichen Kontext stellen. Leser finden in Geschichten Resonanz. Während man Geschichten lauscht, wird reichlich vom Hormon Oxytocin ausgeschüttet und Oxytocin macht empathisch.
Ein gewichtiger Aspekt ist die Kräftigung von Erinnerungen. Das Schreiben hilft, Erinnerungen lebendig zu halten und sie vor der Vergessenheit zu bewahren. Indem man die Details eigener Erlebnisse aufzeichnet, schafft man ein wertvolles Dokument von Lebensgeschichte. Solche Schriftstücke werden zu Relikten der persönlichen Entwicklung. Ziemlich interessant im Kontext ist die westafrikanische Griot-Kultur. Wer mag, liest nach, hier würde es den Rahmen sprengen.
Naja, Schreiben ist nicht zuletzt immer auch Akt des Audrucks von Kreativität. Es erlaubt, die subjektive Interpretation der Welt sichtbar zu machen. Man kann die eigenen Sichtweisen anpassen und neue Narrative schaffen. Im Prozess der Vermittlung der Erlebnisse erkennt man oft, dass das Leben nicht nur aus den Momenten besteht, die man durchlebt, sondern auch aus der Art und Weise, wie man die versteht und mit Worten greift und gegebenfalls verknüpft.
Es bleibt mir unverzichtbar, über Erlebnisse nachzudenken und sie niederzuschreiben. Es ist ein Weg, in Dialog zu treten und einen persönlichen „Wert“ in einer Gemeinschaft zu teilen, die das annehmen mag oder eben nicht. Durch die Reflexion und das Teilen von Geschichten schafft man nachhaltige Verbindungen und hinterlässt Spuren im Leben von anderen. Ist das nicht ziemlich großartig?
"Es genügt nicht, etwas zu sehen, zu erleben, ja zu begreifen. Man muss es auch erzählen können. Die Erzählung, künstlerisch intendiert oder nicht, sucht nach einer Form - ob sie es will oder nicht. Wenn sie es nicht tut, wird sie unverständlich. (...) Die Erzählung (…) ist eine Weise, sich in der Welt zurechtzufinden. Die Energie der Erzählung ist die Energie der Sensibilität für den Anderen, denjenigen, dem man erzählt und dem man zuhört. Dadurch entsteht ein Kreis des Verständnisses und der Empathie, die eine besondere Form des Verstehens ist. Indem wir erzählen, setzen wir die Bereitschaft zum Austausch von Erzählungen voraus."
"Die Polen und ihre Vampire", Maria Janion bei Suhrkamp 2014
Schönes Restwochende.