Rainer

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von Frauen und Männern: „Rainer“

Mein alter Freund Rainer hielt sich nach vielen gescheiterten Versuchen für beziehungsunfähig. Das gesellschaftgültige Modell Zweisamkeit erklärte er für sich als gescheitert.

In jungen Jahren erlebte Rainer durchaus funktionierende Bindungen, deren Halbwertzeiten sich mit seinem Anreifungsprozess allerdings in reziproker Proportionalität dramatisch verkürzten. Er skizzierte mir das mal durchaus plausibel in analytischer Ernsthaftigkeit auf einem Bierdeckel zwischen einem neunten und zehnten Pils. Die ungelenke Präsentation war der Thekensituation geschuldet und unbenommen seiner eingebremsten Rhetorik sowie den limitierten grafischen Fähigkeiten, war eine atemberaubend abstürzende Kurve klar erkennbar. Rainer versah die Achsen noch mit Daten und Namen. Erstaunlicherweise ließen sich die später ins Gedächtnis geholten Protagonistinnen fast ausnahmslos in die Kurve einfügen, was aus der anfänglich steilen These ein robustes Manifest verdichtete.

Andere Beobachter äusserten den Verdacht, dass seine vermeintlichen Misserfolge möglicherweise mit überhöhten Ansprüchen und falschen Vorstellungen zusammenhängen könnten. Das ließ sich aus meiner Sicht leicht entkräften. Rainer hatte nie besondere Qualifizierungskataloge für seine nächsten Beziehungsvorhaben angelegt. Er hatte kein typisches Beuteschema und jagte auch nicht über seinen Verhältnissen. Eher oft erstaunlich weit darunter. Aber das ist nur meine unmaßgebliche, persönliche Einschätzung. Rainer ist kein Adonis und auch kein Quasimodo. Ich halte ihn für geistreich, tatsächlich hat er geisteswissenschaftlich mehrfach promoviert und er ist so empathisch wie überdurchschnittlich parkettsicher. Zu seinem Repertoire gehört sogar ein durchaus pointierter Smalltalk, was kaum selbstverständlich sein kann. Nicht zuletzt besitzt Rainer ein ausgewiesen breites Spektrum in klassischer Allgemeinbildung und eine beachtliche Kulturtiefe.

Er hatte allerdings auch mal eine Phase, in der er Howard-Carpendale-Konzerte besuchte. Die Bombe platzte, als ich eine Karte auf seinem Schreibtisch liegen sah. „Howard Gaspedal, Rainer, was ist das? Ist das ein Präsent? Für Deine Putzhilfe? Man verschenkt doch keine Einzelkarte?“ „Ich will Dir keinen Bären aufbinden, Bruno. Die Karte ist für mich selbst.“ „Hä?“ „Ich stehe bei seinen Konzerten regelmäßig in der allerersten Reihe.“ „Was?“ „Aber natürlich! Ich genieße den Ausblick. Also, genau genommen seinen Ausblick, denn ich drehe mich natürlich um zum Publikum. Oft mit Ohrenstöpseln, um mich besser konzentrieren zu können. Und da sehe ich beinahe ausnahmslos Frauen. Die meisten in den allerbesten Jahren. Wundervolle Frauen, glühende, einsame Herzen. Unerfüllt, missverstanden. Hunderte, Tausende …“

Es folgten bizarre Ausführungen über Kontaktanbahnungsmethoden. Und ich möchte versichern, dass die Howie-Variante bei weitem nicht die Skurillste war. Wie auch immer, seine kreativen Jagdtechniken bescherten Rainer eine beachtliche Touch-Down-Quote. Ich versuchte einzuflechten, dass er wohl erfolgreiche Wege zur abschlußsicheren Unterleibssatisfaktion destilliert habe, diese mir aber ungeeignet erschienen, einem zwischenmenschlich etwas Dauerhafterem Raum und Kraft zu schenken.

„Das will ich gar nicht mehr. Ich habe mich ganz gut mit mir selbst eingerichtet“, entgegnete Rainer und setzte die Qualität der Ruhe und annähernden Zufriedenheit im inzwischen selbstgewählten Singledasein ins Verhältnis zum Gefahren- und Verletzungspotenzial von Personenbindungen.

„Und ich will Dir offen sagen, für S3x ging ich eine zeitlang zum Profi.“ „Oh, na das klingt ja sehr nüchtern!“ „Ja, ganz genau so, wie ich zur Vorsorge den Facharzt konsultierte.“ „Aha?“ „Aber sicher. Privat versichert. Full Service. Keine Mätzchen. Ich betrachtete den Sold nicht als Bezahlung von Liebesdiensten.“ „Sondern?“ „Für mich war es eine Art Versicherungspolice. Ich bezahlte gerne für die Gewissheit, dass sie auch wirklich wieder gingen.“

„Ohje, Rainer, das klingt aber auf ganz vielen Ebenen traurig und kann doch kaum erfüllend sein?“ „Natürlich nicht! Ich war auch schon lange nicht mehr bei den Damen. Ich bin ja fast 60. Der Druck lässt nach.“ „Und jetzt?“ „Ich gehe wieder öfter ins Theater.“ „Allein?“ „Zunächst ja. Ich habe da aber eine sehr nette Frau kennengelernt. Zufall. Sie saß gleich zweimal hintereinander neben mir. Wir treffen uns inzwischen hin und wieder. Gehen in Ausstellungen, tauschen uns aus. Es ist wirklich sehr angenehm.“ „Läuft da was?“ „Nein. Obwohl, schön wär’s schon.“ „Du willst mit ihr ins Bett?“ „Nein, nicht unbedingt, darum geht es mir gerade gar nicht. Es ist einfach schön, Zeit miteinander zu verbringen.“

(2017/2020)

©motiv: pixabay

Bruno SchulzComment