Erwachet!

Erwachet!

Gestern spülte mir Facebook diesen Beitrag aus grauer Vorzeit zurück in meinen Newsstream und ins Bewusstsein und erinnerte mich an das unterschiedliche Gewicht des Imperativs der Vokabel "erwachen" in den verschiedenen Lebensabschnitten: in der Pubertät aus dem Mund meiner Mutter mit 130 Dezibel zur Belebung des heimischen Pumakäfigs. Später von schrägen Gestalten in biederstem Ornat in Sachen Apokalypse und diese mit adäquatem Rüstzeug zu bestehen und heute als Weckruf von querdenkenden Sauerstofflosen wider meinen Trott als Schlafschaf. Die nachfolgende Anekdote beschäftigt sich mit Phase 2:

„Mit „Zeugen“ überzeugen“

Vor vielen Sommern, es ist schon über dreissig Jahre her, als ich in den späten Achtzigern des letzten Jahrhunderts noch für ein paar Semester im Rahmen meines mehr oder weniger freiwilligen „studium universale“ als elastischer, junger und unbedarfter Student der Publizistik, der Politikwissenschaften, der Romanistik und der Kunstgeschichte an der Johannes-Gutenberg-Universität zu Mainz eingeschrieben war und dazu meine ärmliche Souterrain-Butze an einer heftigst befahrenen Durchgangsstraße behauste, klingelten eines Tages die Zeugen Jehovas nachdringlich an meiner Tür. Ich stand gerade ebenso herzhaft singend wie frisch beschaumt, ausgezeichnet aufgelegt unter meiner schäbig gefliesten Prilblumenbrause mit einem dieser mikrobiologisch auffälligen Kunststoffvorhänge, die so zuverlässig wie unangenehm am Körper haften.

Das Dingdong löste bei mir zunächst beglückende Assoziationswelten aus, denn ich nahm vorfreudig an, da stünde bereits meine zeitlich verfrühte Verabredung mit dem Zeigefinger bebend an der Schelle in froher Erwartung unserer gemeinsamen Qualitätszeit.

Ich eilte also im Frotteebademantel duschfeucht glühend an die Pforte und empfing dort, nicht schlecht erstaunt die hyperrealistischen Abziehbilder von Margot und Erich Honecker mit ihren naiv illustrierten und spießig miefigen Gesinnungsfibeln rund um das Erwachen.

Diesmal also hatte ich sie tatsächlich hereingebeten in dem kreativen Gedanken, sie meiner nahezu zeitgleich erwarteten, neuen Flamme als meine Eltern vorzustellen. Ich fand das lustig. Naja, irgendwie.

Also plazierte ich die beiden essigsauer grienenden, spirituellen Motivationsstrategen auf meiner Couch, um sogleich mit einer kleinen Entschuldigung den Raum zu verlassen. Sie mussten annehmen, dass ich mich zurückzog um mich anzukleiden, aber ich holte nur an meiner damals, in Ermangelung von Sachkenntnis wie ledig an ökonomischen Freiräumen, eher lückenhaft sortierten Bar drei ungleiche Stamperl aus dem Mitnahmebestand und eine Flasche klaren Fusel, die irgendwann nach einer Party bei mir ein neues Zuhause gefunden hatte, um - immer noch im Bademantel - barfuß an den Wohnzimmertisch zurückzukehren und mit den Worten einzuschenken: „na dann erzählen Sie mal“. Zwei weit aufgerissene Augenpaare ruhten auf mir und eine Redepause, schwer wie ein Mühlstein.

Es lag vermutlich nicht nur am Angebot der Erblindungsspirituose, dass keine echte Stimmung aufkommen wollte. Leider funktionierte auch die spontan ersonnene Pointe nicht so richtig, denn als meine Bekannte eintraf, mochte die nach der zugegebenermaßen etwas bizarren Vorstellungsrunde dann doch nicht mehr meine Freundin werden. Überall nur Missverständnisse, alles in allem ein Kommunikationsdesaster, das mich noch für lange Zeit in meinem privaten Verhältnis zu den Zeugen Jehovas belasten sollte.

Was allerdings vom Tage übrigblieb, war eine Anekdote von privatem Ewigkeitswert.

Danke für Eure Aufmerksamkeit.



Bruno SchulzComment