"Die Sicht auf die Dinge" ("Die Tante", Kapitel 6)

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„Warum ärgerst Du Dich, Bruno?“ Tante Elena schenkte mir eine Tasse tiefschwarzen Kaffee ein, der widerspruchslos auch als flüssig kochender Straßenbelag durchgegangen wäre. Dabei musterte sie mich stirnrunzelnd mit ihren hellwachen, ebenso schwarzen Augen durch ihre, jedem Maßstab spottende, gewaltige Aristoteles-Onassis-Gedächtnis-Brille. Sowohl im Aschenbecher, als auch in ihrer rechten Hand glimmten Camel-ohne-Filter-Zigaretten, wie vermutlich noch an diversen anderen Ascheabladeplätzen in der großzügigen Gründerzeitwohnung. 

„Also?“ Sie duldete niemals ein Ausweichen, also gestand ich lieber gleich: „ich war mit dem Auto meiner Mutter unterwegs.“ „Hahaha, mit dem Detektiv-Rockford-Auto?“ Da war wieder dieses lastschiffankerkettenrasselnde Lachen, gefolgt von durchdringendem Hustenbellen. „Ja, mit Mutters Camaro.“ „Für Dich als Schüler ist das höchstens peinlich, aber sicher kein Grund zum ärgern. Wolltest Du den Mädchen gefallen?“ „Natürlich nicht!“ „Neiiiiiin, niemals, hahaha. Und?“ „Ich musste ein paar Schulbücher abholen, die ich in der Buchhandlung bestellt hatte. Dafür wollte ich allerdings nicht auch noch teure Parkgebühren bezahlen und zudem vierhundert Kilometer weit laufen …“ „Ich ahne es bereits.“ „… ja, absolutes Halteverbot, Ausfahrt, Feuerwehrdingens … sechzig Mark.“ „Das macht man ja auch nicht.“ „Jaja, blabla.“ „Deswegen musst Du ja nicht gleich pampig werden, dass Du frustriert bist, verstehe ich ja.“ „Entschuldige.“ „Angenommen.“ Tante Elena steckte sich eine weitere Zigarette an und sog den Rauch bis in die allerletzten Verästelungen ihrer Nikotinbelastungsprüfstelle. „Ich würde Dir gerne eine andere Sicht auf die Dinge schenken.“ Ich schaute sie ungläubig an. Was wollte sie mir damit sagen. Sollte das eine rechtmeiernde Lehrstunde werden? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Nicht bei Tante Elena. „Wie meinst Du das?“ „Nun, ich hätte da eine kleine Anekdote anzubieten.“ „Hahaha. Super! Genau das brauche ich jetzt!“ „Also los …“

Tante Elena lehnte sich zurück, dehnte und streckte sich und drehte die Augen soweit nach oben, dass ich vermuten musste, sie versuchte in Ihren eigenen Kopf zu blicken, um alle nötigen, vortragsrelevanten Details aufzulesen. Die typische Show, die sie abzog zu vermitteln, sie müsse sich sammeln, um eine ihrer Geschichten zu erzählen. Dabei gehörte das selbstverständlich dramaturgisch zu ihren Nummern wie der Struppi zum Tim.

„Der Grün. Der Grün betritt eine jener großkopferten Glaspalastbanken in Manhattan und fragt umgehend nach dem Geschäftsführer, dem Blau.“ „Das müssen ja riesige Familien sein, soviele Geschichten Du zu den Grüns und Blaus zu berichten weißt.“ „Jetzt halt doch mal die Klappe. Der Grün also erklärt dem Blau, er müsse für eine zweiwöchige Geschäftsreise nach Europa aufbrechen. Dazu benötigte er unbedingt einen Kredit über fünftausend Dollar. Blau sagt ihm, dass ein Kredit keine große Sache sei, dass man für die Summe allerdings schon eine Sicherheit benötigte. Grün willigt ein und bietet Blau seinen hochherrschaftlichen Rolls-Royce an, der direkt vor der Bank auf dem Haltestreifen steht. Blau akzeptiert nach kurzer Prüfung der Papiere, Grün überreicht den Fahrzeugschlüssel und ein Angestellter der Bank setzt sich ans Volant, um das exklusive Automobil in die geldhauseigene Tiefgarage zu fahren und es dort sicher zu deponieren.

Auf den Tag genau zwei Wochen später kommt der Grün wieder in die Bank, zahlt den Kredit von fünftausend Dollar zurück, sowie die Kreditzinsen zu fünfzehn Dollar einundvierzig. Der Blau freut sich: ‚Wir sind hocherfreut, mit Ihnen Geschäfte machen zu dürfen, die Transaktion ist äußerst wünschenswert verlaufen. Nachdem wir ein paar Erkundigungen über Sie eingezogen haben, sind wir allerdings ein wenig erstaunt über den Vorgang an sich und würden nur zu gerne eine Verständnisfrage platzieren.‘ ‚Nur zu‘, sagt der blendend aufgelegte Grün. ‚Wir wissen inzwischen, dass Sie Multimillionär sind ohne jedes Liquiditätsproblem. Warum also um alles in der Welt, leihen Sie sich von uns fünftausend Dollar?‘ ‚Das ist ganz einfach zu beantworten‘, meint da der Grün: ‚Wo bitte kann ich denn schon sonst mein Auto in Manhattan ganze zwei Wochen lang parken für nur fünfzehn Dollar?‘

Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Tante Elena mir damit, geistreich wie immer empfahl, mehrere Sichten auf ein und dieselbe Sache zu unternehmen, oder um mit dem deutschen Maler und Kunsttheoretiker Josef Albers zu sprechen: „wage weiter Varianten“. Sie saß mir mit offenen Armen und Händen gegenüber, schaute mich mit großen Augen an und sagte: „Wenn man immer nur durchs Objektiv schaut, bedeutet das noch lange keine objektive Sicht auf die Dinge.“ „Au weia, jetzt wird aber gekalauert.“ „Quatsch.“ „Doch!“ „Nein!“ „Oh!“ Womit wir endlich bei Louis de Funès angelangt waren, für den wir uns beide immer zu begeistern wussten. Einhundertprozent zitatfest.