"Ewigkeit und Unendlichkeit" ("Die Tante", Kapitel 7)

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„… ist dasselbe.“ „Nein, ist es nicht. Jedenfalls nicht für mich.“ „Wo liegt denn dann bitte der Unterschied, Herr Doktor. Und versuche es doch mal auf den Punkt zu bringen.“ Wunderbar, wir hatten also die Sachebene schon fast so scheppernd verlassen, wie Han Solos Millenium Falke die Raumstation Mos Eisley. Trotzdem wollte ich ein allerletztes Erläuterungsexperiment nicht unversucht lassen, meine Sicht auf die Dinge zu artikulieren: „schau mal, Bea …“ „Oh, wie ich es liebe, wenn Du mit mir sprichst, wie mit einer Idiotin.“ „Nein.“ „Doch. Also?“ „Ok, Unendlichkeit bedeutet für mich, dass etwas endlos ist. Das heisst aber nicht, dass es keinen Anfang hat. Vielleicht so, wie das Ding mit dem Urknall. Eine Art Startimpuls und dann Unendlichkeit.“ „Und Ewigkeit?“ „Die hat für mich keinen Anfang und kein Ende. Ewigkeit umgibt alles. Sie ist wie ein in allen Richtungen grenzenloser Teppich, auf dem sich alles abspielt. Sie ist das unerschöpfliche Volumen, in dem dann auch irgendwann der Urknall stattfand.“ „Hm.“

„Worüber debattiert Ihr hier?“ Tante Elena war auf einem ihrer Routinemärsche vom Wintergarten in die Küche zur Proviantaufnahme von frischem Kaffee und einem planmäßigen Aschenbecherwechsel ganz lässig an unserer Wohnzimmercouch gestrandet, so wie jene Weltensegler, die mal eben tiefenentspannt an einer Südseeinsel Halt machen, um mit ein paar schlichten Eingeborenen zu schwätzen, weil es die eigenen Perspektiven verändern könnte.

„Wir versuchen herauszufinden, ob es einen Unterschied gibt zwischen Ewigkeit und Unendlichkeit.“ „Und, zu welcher Erkenntnis seid Ihr gelangt?“ Bea konnte sich in ihrer Geste noch nicht so recht entscheiden zwischen Abfälligkeit und Resignation: „Ich finde, es gibt keinen. Aber Bruno meint, die Unendlichkeit habe, im Gegensatz zur Ewigkeit immerhin einen Anfang, wenn schon beide keinen Schluss finden können.“ 

„Das ist ein wirklich interessantes Thema. Im Judentum, oder genauer in der kabbalistischen Mystik gibt es den Begriff ‚ain soph‘. Das bedeutet: ‚es hat kein Ende‘. Es steht für die äußerste Wirklichkeit. Sowas wie der Gott jenseits von Gott. Ziemlich komplexer Kram. Ein bisschen wirr, wir wollen uns damit nicht unnötige Kopfschmerzen herbeisinnieren. Einen Denk- und Besinnungsmuskelkater bekommt man da nur allzu leicht, wenn man nicht regelmäßig in der Kabbala trainiert.“ Ich liebte Tante Elenas Metaphern, mit denen sie es verstand, einem auch die entferntesten Themen nahezubringen.

„In Sachen Ewigkeit habe ich eine Anekdote parat.“ Sofort waren wir hellwach. Die mussten wir hören. Wir liebten das. „Sie stammt von Rabbi Abraham Twerski. Abraham Joshua Twerski. Ein chassidischer Rabbi, der auch promovierter Psychiater ist. Zig Bücher hat der geschrieben. Eine echte Ausnahmeerscheinung ist er. Ein sagenhaftes Talent. Haredi. Ultraorthodox. Und trotzdem lebensnah. Twerskis Familie stammte ursprünglich aus Bobowa. Das liegt in Galicien im Süden Polens. Jetzt sind sie alle in Brooklyn.“ „Tante, spann uns bitte nicht auf die Folter, wann kommt endlich die Geschichte?“

Natürlich musste sich Tante Elena erst einmal eine Zigarette anzünden. Dabei ließ sie sich selbstverständlich alle Zeit der Welt, schließlich gehörte auch das zu Ihrer eingespielten Dramaturgie, wie die Butter aufs Brot. Das Ausschütteln des Streichholzes schien allein Stunden in Anspruch zu nehmen. Hin und her und her und hin. Bea verrollte schon Ihre Augen: „Tante!“ „Lass mich, ich bin eine alte Frau und muss mich konzentrieren. Ich will versuchen, alles zusammenzuhalten.“
Wir lehnten uns, ganz entgegen unserer neugierigen Anspannung, nur vermeintlich gelassen zurück. Unser Mätzchen in dem Schauspiel, in dem jeder seine angestammte Rolle zu spielen wusste. So wollte es das Ritual.

„Da ist also dieser Shlomo. Shlomo ist ein sehr glücklicher junger Mann. Er sprüht vor Glück. Und so kommt er eines Tages mit dem Rabbi Halberstam ins vertrauliche Gespräch. Er fragt ihn: ‚Rabbi, Leben ist wunderbar. Ich möchte so gerne ewig leben, was kann ich tun?‘ Der Rabbi wiegt seinen Kopf mit dem schlohweissen Bart, den Schläfenlocken und der typischen Kopfbedeckung sehr lange nachdenklich von links nach rechts und umgekehrt. Dann sagt er: ‚Shlomo, hör mir gut zu. Ich denke, Du solltest heiraten.‘ ‚Heiraten? Wenn ich heirate, werde ich ewig leben?‘ ‚Nein Shlomo, aber der Wunsch wird verschwinden.‘“

Wir explodierten und Tante Elena zog tief an ihrer Camel-ohne-Filter, um sogleich dampfend mit ihrer röchelndrasselnden Brian-Johnson-AC/DC-Lache in unseren Chor einzustimmen. Jetzt hatten wir also auch noch die Relativität von Ewigkeit durchgenommen. Damit konnte vor wenigen Minuten noch keiner rechnen. Licht an einem dunklen Novembertag.