vom merken und bemerken.

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Vorgestern, am 27. Januar, beging man den sechsundsiebzigsten Tag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz. In den Nachwehen der virtuellen Gedächtnisparties dazu, nach all den inflationären, fancy Insta-Selfie-Hashtag-Kampagnen wie #neverforget oder #weremember als lockerleichter Ablass der zeitgeistigen Moralausteller und einer so empathielosen wie manierenfreien Hahaholocaust-Pointenauswertung durch die „Heute Show“ mit vielen tausend „Likes“ aus der „Z“entrale „D“eutschen „F“rohsinns, mag ich noch einmal mit Abstand und zur Besinnung die reflektierende Lektüre eines Abschiedsbriefes empfehlen, der wohl nur die emotional völlig Ausgebrannten nicht erreichen kann.

Diesen Abschiedsbrief hat der russische Major Wladimir Demidow in der Ortschaft Byten im Gebiet Baranowitschi gefunden. Geschrieben haben ihn die Jüdin Slata Wischnjatskaja und ihre zwölfjährige Tochter Judith am 25. Juli 1941, kurz vor beider Hinrichtung. Der Brief ist adressiert an den Ehemann und Vater.

Vielleicht bedarf es für manche des Blicks auf ein individuelles Schicksal, um die ganzheitliche Perspektive nicht völlig aus den Augen zu verlieren. Mich selbst macht das Schreiben zutiefst traurig.

„An meinen Moschele und all meiner Lieben!

Am 25. Juli hat hier ein schreckliches Massaker stattgefunden, wie auch in allen anderen Städten. Es war Massenmord. Nur 350 Menschen sind am Leben geblieben. 850 wurden von den Mördern des schwarzen Todes umgebracht. Wie junge Hunde warfen sie die Kinder in die Abtritte, sie warfen sie lebendig in die Gruben. Viel kann ich nicht schreiben, doch ich hoffe, daß irgend jemand zufällig mit dem Leben davon kommt, der von unseren Qualen, von unserem blutigen Ende berichten wird. Noch konnten wir uns retten ... doch wie lange noch? Wir erwarten jeden Tag den Tod und beweinen unsere Nächsten. Die Deinen, Moschele, sind schon tot. Doch ich beneide sie. Ich schließe, es ist unmöglich zu schreiben, und ich kann ohnehin nicht ausdrücken, was wir erleiden. Bleibt alle gesund. Das einzige, was Ihr für uns tun könnt, ist Rache an unseren Mördern zu üben. Wir rufen Euch zu: Rächt uns! Ich küsse Euch inniglich. Ich nehme vor unserem Tod Abschied von Euch allen. - Slata

Lieber Vater!

Vor dem Tod nehme ich Abschied von Dir. Wir möchten so gerne leben, doch man läßt uns nicht, wir werden umkommen. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn die kleinen Kinder werden lebend in die Grube geworfen, Auf Wiedersehen für immer. Ich küsse dich inniglich. - Judith“

… aus:

„Das Schwarzbuch, Der Genozid an den sowjetischen Juden“

von Wassili Grossmann und Ilja Ehrenburg. In deutscher Sprache herausgegeben von Arno Lustiger, 1994.

Anmerkung: In Byten wurden etwa 1800 Juden durch Deutsche ermordet.

Foto: Ein deutscher Soldat in Uniform zielt auf eine Mutter, die ihr Kind schützend in ihren Armen hält. Diese Aufnahme wurde von einem Landser per Post als Gruß von der Front in die Heimat verschickt („wir haben alle nichts gewusst“), aber in einem Warschauer Postamt vom polnischen Widerstand abgefangen und zu einem weiteren Dokument des Unfassbaren. Auf der Rückseite wurde emotionslos notiert: "Ukraine 1942, Judenaktion, Ivangorod".

Bruno SchulzComment