Von Wundern

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Die Tante

17. „die Sicht auf die Dinge“

Ich weiß nicht mehr genau, wie wir darauf kamen, wahrscheinlich haben wir es irgendwo gelesen und plötzlich war die Geschichte da: „Das Wunder der Anden“ von der Rettung einer uruguayischen Rugbymannschaft, die 1972 während einer Flugreise von Montevideo nach Santiago de Chile in den Hochanden abgestürzt war und von der nach unglaublichen zweiundsiebzig Tagen immerhin sechzehn Mitglieder gerettet werden konnten, nachdem sie bereits lange aufgegeben worden waren. Bea verrollte die Augen und intonierte Katja Ebstein: „Wunder gibt es immer wieder …“ „Bitte, bitte, aufhören, bitte!“ Flehend faltete ich meine Hände und ging bereits in die Knie.

Eine Verkettung von unglücklichen Umständen, eine absurd fehlerhafte Navigation, schlechte Witterungsbedingungen und falsche Entscheidungen führten in eine Katastrophe, eine Havarie im Hochgebirge auf knapp viertausend Metern Höhe in extrem unwirtlichen Bedingungen. Und da waren da eben eine Gruppe verdammt robuster Burschen, die den Crash überlebt haben, Rugbyspieler, die als erfolgreiches Team zusammenzuhalten wussten und ein paar mutige und auch unkonventionelle Entscheidungen getroffen haben. Nachdem bereits nach wenigen Stunden die knappen Vorräte an Keksen, Schokolade und Rotwein aufgebraucht waren, hat man sich mit einiger Überwindung an den tödlich verunfallten Reisegefährten bedient. Profaner Kannibalismus. Das kann man ekelhaft finden und dennoch eine Notwendigkeit darin erkennen, wenn man alle Sinne beisammen hat. Diejenigen in der besten Verfassung brachen irgendwann auf, um Hilfe zu holen, was schließlich auch gelang. Helden? Ja, sicher. Wunder? Wir sahen uns an und bestätigten uns gegenseitig das Gefühl sich aufdrehender Zehennägel.

Wir taten uns sehr schwer damit. „Wunder? Was soll das überhaupt sein?“ „Naja, ich glaube, es findet immer gerade dann Verwendung, wenn die Leute sich etwas nicht erklären können.“ „Übernatürlich, metaphysisch, religiöser Schwurbel, Hokuspokus.“ „So ungefähr und vielleicht doch nicht ganz. Wunder beschreiben möglicherweise das Volumen eines Raums, den das Wissen noch offengelassen hat.“ „… und das sieht jeder sowieso ganz anders …“

„Worum geht es?“ Tante Elena schlurfte eine ihrer Routinerunden durch die etwas angestossene großbürgerliche Wohnung von Familie Hoffmann auf dem Weg vom Wintergarten in die Küche oder zurück. So genau hatte ich es diesmal nicht mitbekommen. Es ging letztlich immer darum, neuen Kaffee zu holen oder das, was sie dafür hielt. Mit ihrer Rechten hatte sie die zerbeulte Thermoskanne fest im Griff, in der Linken glimmte eine der zahllosen Camel-ohne-Filter, mit denen sie tagein, tagaus ihren Atemapparat torpedierte wie General Patton ‚44 die deutschen Truppen bei Avranches.

„Also?“ Sie blickte eindringlich. „Wir sprechen gerade über Wunder.“ „Und? Zu welchem Ergebnis kommt Ihr?“ „Alles ziemlicher Mumpitz. Erklärungsfutter für die Schlichteren unter uns.“ Die Tante zog ihren Stummel rotglühend, wiegte ihren schwarzgrau bemähnten Kopf hin und her und meinte, es käme wohl immer auch auf die Perspektive an: „Für mich ist das Wunder vielleicht eine Art Erlösung aus Wunsch und Hoffnung. Man muss nicht alles erklären und will vielleicht auch nicht immer alles erklärt bekommen.“

„Sicher hast Du eine Anekdote für uns …“ Tante Elena blickte mich fordernd an über den Rand ihrer Aristoteles-Onassis-Brille. „Ganz schön vorlaut. Sei’s drum. Hier kommt die Geschichte, wenn ihr mögt.“ „Unbedingt, ja, bitte.“

„Genau so ist es passiert: der Rabbi und der Blau sind zusammen unterwegs auf einem alten, knarrenden Pferdefuhrwerk. In einer frühen Sommernacht, die Luft ist angenehm, nicht zu warm, aber auch nicht kalt und über der fahrenden Gesellschaft spannt sich ein klarer Sternenhimmel. Ein fabelhafter Moment. Der alte, eingespannte Zosse sorgt für ein gemütliches Tempo und damit reichlich Zeit, sich zwischen den Dörfern über die Dinge zu unterhalten, die die Welt bedeuten. Die Bedingungen sind ideal. Der Rabbi wäre kein echter Rabbi, wenn er nicht die Gelegenheit nutzte und so geht es recht bald um die übernatürlichen Ereignisse. Er fragt den Blau: ‚Blau, wenn Du eine stumme Frau hättest und die würde wegen eines Rabbis plötzlich anfangen zu sprechen, sag, würdest Du an ein Wunder glauben?‘ Der Blau denkt nach, reibt sich den Kopf und entgegnet: ‚Rabbi, nein, aber wenn meine Frau plötzlich verstummen würde, dann schon.“

Explosionsgelächter. „Die Sicht auf die Dinge.“ „Eine Frage der Perspektive …“ „… ja, das ist es wohl immer. Irgendwie.“

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Bruno SchulzComment