"ich bin kein Berliner"

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Kennt Ihr das? Menschen, die sich über einen Flecken Erde definieren, auf dem sie leben? Der sie groß macht, bedeutend und stolz? Viele schimpfen jetzt vorschnell auf die Nationalisten, auf Chauvinisten, sehen vor ihrem geistigen Auge Trachten, Fahnen, Lederhosen oder sogar braune Hemden. Doch soweit muss man gar nicht springen. Die Idiotie zieht sich quer durch alle Schichten, Familien und Denkmuster, auch die Politischen und sie hat noch nicht einmal unbedingt mit der eigenen Herkunft zu tun.

Es reicht die Strahlkraft einer Stadt, zu der die meisten laut Tönenden in der Regel eher unmaßgeblich beigetragen haben. Da wird wacker dekliniert bis in den adäquaten Kiez, das Quarré, die amtliche Hausnummer auf der „richtigen“ Straßenseite. Nur allzu leicht verfällt man da auf das alte Muster, exklusiv die Konvertiten zu verteufeln. Und natürlich ist der lamentierende Prenzelbergschwabe eine so unangenehme Erscheinung wie der zugezogene Schanzen-Schwätzer. Aber ist der selbstvermeintliche, verschroben mürrische Ureinwohner in seinem reaktionären Selbstverständnis nicht fast noch dumpfer, mit seinem proklamierten Geburtsrechtsgewese als authentischer Meldeamtarier ab der zweiten Generation?

Nicht selten hat der das Brot kaum über Nacht und muss sich gewaltig strecken, um als Wurmfortsatz einer nur in seiner Phantasie existenten Gemeinschaftshypothese vor sich hinzuvegetieren. Er glaubt dazuzugehören. Aber zu welchem Preis? Braucht das „wir“ wie die Zwölfjährige ihre Ponyhoffreundinnen und dren Bruder seine Fußballkumpels. Definiert sich über die Leistung Dritter, ganz wie der Schulhofprolet, der vom Befähigungsspektrum seiner großen Brüder und zahlreichen Cousins salbadert, aber selbst kaum Übersichtliches anzustellen hat.

Eine kirmesbunte Heimatromantik in zwingergroßen Wohnklos zwischen Tretminen, Backshops, Mobiltelefonhökern und Späti. Ja vielleicht ist es das, die Lokalpatrioten brauchen ihr diffuses Heimatszenario womöglich als Leitplanke, um nicht an sich selbst zu verzweifeln und gleich aus der erstbesten Kurve zu fliegen.

Warum mich sowas als bekenntnisfreier Provinzbürger ärgern kann, dass ich darüber schreibe? Möchte ich auch unbedingt Berliner sein, Kölner, Hamburger oder was auch immer? Nein, sicher nicht. Ich habe in meinem Leben hinreichend große Städte erlebt. In Afrika und Asien. Dystopische Ameisenhaufen, neben denen jede deutsche Metropole bar ihrer selbstdeklarierten Prominenz wie ein Kuhdorf anmuten muss.

Um was geht es dann? Vielleicht fühle ich mich getriggert, es mir ein bisschen zu bequem eingerichtet zu haben in meiner Nische, die ich so nicht suchte. Es ist auch nicht so, dass ich mir mehr Menschen wünschte und schon gar nicht die Interaktion mit denen. Vielleicht ärgere ich mich, dass ich es bislang nicht geschafft habe, die Parameter herzustellen, in denen ich mein Auskommen fände an einem nordjütländischen Strand in einem Holzhaus mit den technischen Segnungen unserer gegenwärtigen Zivilisation in gedehnter Fußentfernung zum nächsten Dorf mit den Angeboten für die grundsätzlichen Bedürfnisse des täglichen Bedarfs.

Will ich deshalb jetzt ein Grønhøjer werden, ein Løkkener, ein Aalborger, ein Skagener? Unsinn! Ich bin mir genug in meiner Haut und muss mich auch nicht ständig an anderen schuppern und reiben, um mich selbst endlich spüren zu können. Aber schön wär das schon mit dem Strand.

Ich überlege.

Bruno SchulzComment