„341“, oder: wie ich Neil Young in einem dänischen Supermarkt traf.

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Auch an meiner regelmäßigen dänischen Urlaubsdestination ist die Zeit nicht einfach so vorübergezogen. Das Städtchen Løkken an der Jammerbucht hat zwar vieles bewahren können, was ich hier seit Jahrzehnten nicht suchen muss, aber zuverlässig finde: Ruhe, Stille, Weite, Leere, Sauerstoff, Unaufgeregtheit und Unaufdringlichkeit und doch verändert es sich unentwegt. Manches zum Guten, wenn ich das Publikum besehe und die Stadtplanung, aber eben doch nicht alles. Wie überall, tut sich auch hier das traditionelle, stationäre Lebensmittelhandwerk sichtbar schwer.

Mit der Bäckerei „Søren Kodal“ hat vor drei Jahren eine Institution für immer ihre Pforten geschlossen, die mich über Jahrzehnte mit frischen Brot- und Backwaren versorgte und mit der legendären, original „Dagmartorte“. Wer die jemals gegessen hat, weiß um diesen herben Verlust. In jungen Jahren, als halb Skandinavien Løkken noch als dänische Riviera verstehen wollte und hier die sommerlichen Werksferien verbrachte, hatte Kodal in diesen Zeiten rund um die Uhr geöffnet und das Sicherheitspersonal an seiner berghainharten Tür war stets angewiesen, nur so viele Kunden hereinzulassen, wie gerade herauskamen. Dazu mussten diese in der Lage sein, eine fehlerfreie Bestellung aufzusagen. Für viele damals ein unüberwindbares Hindernis. Bei den Dauernarkosepatienten aus Norwegen, Schweden und Finnland war das alles mehr als gerechtfertigt. In den frühen und mittleren Achtzigern wohlgemerkt und das bei einer Bäckerei. Als wir schließlich von der dauerhaften Ladenschließung erfuhren, sind wir in mehr als tausend Kilometern Entfernung in „Deutsch-Südwest“ an der schönen Nahe wie die Klageweiber der Berberstämme aus dem Hohen Atlas von überbordender Trauer gepeinigt orientierungslos durch die Straßen geirrt.

Wie andernorts, kauft man seine Brötchen heute auch hier in der seelenlosen Vorkassenzone eines Supermarktes. In Ermangelung an Alternativen erinnert die frühmorgendliche Verkaufsatmosphäre an die Bilder aus dem Weltspiegel von Lebensmittelverteilungsstellen in einem ostafrikanischen Katastrophengebiet. Um dem Chaos zu begegnen hat man ein Ticketsystem eingeführt, das trotz des immensen Ansturms verdammt gelassen funktioniert. Hier ist eben Skandinavien. Die Nummer mit dem Glück hat wohl einen Grund.

Heute früh betrat ich also nach der rituellen Corona-Handwaschung am Desinfektionsautomaten mit kleinen Ohs und AHs die große Vorhalle des hiesigen Einkaufstempels und bekundete konform der verinnerlichten Kosumliturgie meine Demut durch ein Zeichen meines Zeigefinger an der zur Edelstahlstele geformten Devotionalie per Druck des Schmuckknopfes zwecks Anforderung meiner persönlichen Bedienungsmarke, die von den Meßdienern gemäß numerischer Reihenfolge in Gebackenes getauscht werden würde. Zur Steigerung meiner Vorfreude wurde im Vorraum ein Monitor montiert, der mir zwar keine Liste von gemeinsamen Singstücken aus bereitliegenden Liederbüchern verkündete, wohl aber ein Gefühl für meine Wartespanne vermittelte, die sich bar jeder Zeitynchronisation an den Konzentrationsfähigkeiten im Einkaufsverhalten meiner vorangehenden Mitverbraucher orientierte.

Da sich viele Reisende nicht einmal um die Grundbegriffe des dänischen Alltags bemühen wollen und das dem dänischen Personal zurecht sauer aufstößt, verzögerte sich das Procedere nicht unerheblich.

Ich stieg mit der Nummer „341“ in das Rennen ein und mein, in solchen Extremsituationen hochsensibilisierter Wahrnehmungsapparat errechnete im Verlauf eines Wimpernschlags, dass ich damit unvorstellbare 35 Plätze hinter der aktuell Führenden lag. Diese band mit ihrer Robert-Smith-Frisur, der schrill geschminkten Gesichtsreminiszenz an die traditionelle chinesische Oper und einem „Morgenkleid“, das an ein in stiller Heimarbeit mit übersichtlichem Geschick umfunktioniertes Frotteespannbetttuch mit psychedelischem Paisleymuster erinnerte, jede Menge Aufmerksamkeit bei den lokalen Bäckereifachangestellten. Sie bremste mit der Faszination einer Massenkarambolage vergleichbar, den gesamten Prozess zu einer Art gefühlter Ultrazeitlupe.

Das schien jedoch keinen der Wartenden besonders zu stören. Die Gruppe, die unablässig anwuchs und inzwischen den halben Vorraum füllte, bestand aus Menschen jeden Alters, jeden Geschlechts, jeder Hautfarbe und so weiter, ein ziemlich repräsentatives Abbild unserer zentraleuropäischen Gesellschaften, was jedoch in ihrem Verhalten keinen höheren Ausdruck fand. Sie starrten gebannt auf den Monitor, wie Labortiere in einem abstrahierten Experiment zu den pawlowschen Reflexen: die Verkürzung des Abstands der Projektion zur eigenen Ziffer steigerte bei manchen ganz offensichtlich den Speichelfluss.

Plötzlich betrat Neil Young die Bühne und außer mir schien das keinem aufgefallen zu sein. Sehr schön: der gehört mir. Ok, er erschien mir deutlich jünger als er heute tatsächlich sein könnte, aber seitdem jetzt sogar schon amerikanische Onlinekrämer in der überdimensionalen Nachbildung eines primären Geschlechtsorgans ins All fliegen können, scheint bald nichts mehr wirklich unmöglich zu sein, was sind da schon Reisen durch Zeit und Raum? Der gute Neil wirkte ein bisschen unsicher, die Szenerie schien ihm nicht ganz geheuer. Was machte er hier in Dänemark im Vorkassenbereich eines Super-Brugsen-Marktes? Obwohl der Tag noch jung war wirkte Neil auf mich, als habe er schon ein paar Programmpunkte auf seiner tagesfrischen Pegelliste eifrig abgearbeitet. Während er sich in leicht gekrümmter Haltung fahrig umschaute und ein paar Schritte vor sich hintippelte, als habe er eine beinbetonte Neuropathie als Folge eines betäubungsmittelabususbedingten Korsakow-Syndroms, entdeckte er mich in der Menge, der ihn fixiert hatte. Das mit dem Korsakowsymptom ist natürlich Unsinn, ich erinnerte mich gleich an seine Polioinfektion aus den frühen Fünfzigern, die ihn für einige Zeit an die akustische Gitarre zwang, die er eben auch im Sitzen spielen konnte. Das war ein guter Aufhänger. Ahnte Neil denn überhaupt, wer er wirklich war? Und war das überhaupt von Bedeutung, jetzt wo er mir Kurzweil bot? Noch waren immerhin 23 Personen vor mir dran und die kommenden fünf Senioren wirkten auf mich nicht eben wie menschgewordene Brandbeschleuniger.

Ich schlenderte zu ihm rüber und er schien zu ahnen, dass er der Konfrontation mit meiner selbstgewählten, situativen Realität nicht ausweichen konnte, wenn er nicht seine aktuellen Brotrangnummer aufgeben wollte, die in der Fresskette immerhin schon weit hinter meiner lag. Neil war offensichtlich in einem Gewissenskonflikt, der ihn in eine Verhaltensstarre zwang, meine Glückwunschadresse ertragen zu müssen für seinen einzigen Nummer-Eins-Hit in einer seit dem frühen Mittelalter über Jahrhunderte andauernden Karriere als einer der größten Singer und Songwriter überhaupt, das akustische „A Heart of Gold“ vom Album „Harvest“ aus dem Jahr 1972, so wird‘s ein Kreis:

„I want to live

I want to give

I've been a miner

For a heart of gold

It's these expressions

I never give

That keep me searching

For a heart of gold

And I'm getting old

Keep me searching

For a heart of gold

And I'm getting old“

Nachdem ich die ersten Zeilen seiner Lyrics zitiert hatte und ihn für die grandiose Idee beglückwünschte, die großartigen James Taylor und Linda Ronstadt im Background zu besetzen, starrte Neil nur noch verwirrter in Richtung Backwarentheke, die er aber nicht zu fokussieren schien. Er blickte ins Leere. Als ich ihn noch fragen wollte, ob ihm überhaupt bewusst sei, dass er damit sogar einem Stefan Waggershausen noch eine halbwegs ordentliche Vorlage für ein einigermaßen erträgliches Cover geliefert habe, machte er plötzlich kehrt und lief schreiend davon. Mit wirrem Haar und noch wirrerem Blick und teilte die Menge wie Moses das Meer. Dabei erinnerte er mich fast ein wenig an Christopher Allen Loyd in seiner Paraderolle als „Doc Brown“ in Zurück in die Zukunft in einem der späteren Sequels, als sein Wahnsinn schon Routine hatte. Irgendwie hängt ja doch alles zusammen. Bei einer Frage nach seinem DeLorean und ob die kurze Strecke auf dem Parkplatz wohl reiche für einen Zeitsprung, wäre der ahnungslose Brotkunde vermutlich endgültig geplatzt. Egal, Neil hin, Loyd her, der Typ hatte seine Warholschen 5 Minuten Ruhm, oder zumindest so was ähnliches und wenigstens mir hat‘s gefallen.

„341!“ Hey, das war mein Aufruf: „ready for boarding“. So ging es doch schneller als befürchtet und meinen Ohrwurm hatte ich geschenkt noch obendrein:

„Keep me searching

For a heart of gold

You keep me searching

And I'm growing old

Keep me searching

For a heart of gold

I've been a miner

For a heart of gold“

Ob mir das nachgehen wird? Ich weiß es nicht.

... mehr zu lesen gibt es unter: www.brunoschulz.de

Bruno SchulzComment