Hä?

Da ist noch so vieles, das wir nicht verstehen und manche unter uns verstehen nicht einmal das.

„Die Fähigkeit, Texte lesen und verstehen zu können, stellt eine zentrale Voraussetzung für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben dar“ (Souvignier/Antoniou, 2007).

Vielleicht macht man ja einen Fehler, das sinnentnehmende Lesen einfach vorauszusetzen. Beim öffentlichen Posten von Beiträgen jenseits meiner Echokammer werde ich in den anhängigen Threads zunehmend mit Kommentaren konfrontiert, die mich an jeder Erwartung zweifeln lassen, alle Diskutanten könnten sich selbständig die relevanten Informationen aneignen.

Es liegt nahe dass die, die sich mit dem sinnentnehmenden Lesen schwer tun, längst allgemeine Verständnisschwierigkeiten entwickelt haben. Nicht selten kennzeichnen sie diesen Mangel selbst, durch das Dekorieren der eigenen Biographie mit dem Hinweis auf den exklusiven Besuch einer „Schule des Lebens“ oder dem international daherschreitenden pendant, der „school of hard knox“.

Das Textverständnis ist tatsächlich eine ziemlich komplexe Kompetenz. Es geht nicht nur darum, die im Text explizit benannten Informationen zu identifizieren und zu verarbeiten, sondern um eine mentale Repräsentation der inhaltlichen Aussagen und das Entwickeln neuer, differenzierterer Bilder in der Durchwirkung mit einem Vor-, Welt- und Sprachwissen.

„Lesen ist keine passive Rezeption dessen, was im jeweiligen Text an Information enthalten ist, sondern aktive (Re-)konstruktion der Textbedeutung“ (Artelt, 2002).

Um diese Leistung zu erbringen, müssten sich die Diskutierenden aktiv-strategisch mit den Inhalten auseinandersetzen wollen oder können, wobei es sich vor allem um kognitive Strategien dreht, relevantes Hintergrundwissen zu aktivieren, Vorhersagen zu treffen, Erwartungen an die Inhalte zu formulieren, in mentale Bilder zu transformieren.

Je länger ich durch die sozialen Medien streife, desto mehr gelange ich zu der Gewissheit, dass viele Zeitgenossen völlig schamlos den Anspruch gleich ganz abgelegt haben, sich überhaupt noch in einen Text einarbeiten zu wollen, um lieber im lockeren Konturenflug ein paar triggernde Impulse als Einladung misszuverstehen, verwortlichte Frustration in anderer Leute Chronik zu defäkieren und das noch dreist als schützenswerte Meinung adeln zu können glauben.

Ein Fehler, sich darauf einzulassen. An dieser Stelle sollte man der Empfehlung des erfahrenen Lazarettchirurgen folgen und weit im Gesunden schneiden: verbergen, löschen oder besser gleich blockieren. Das schont die Nerven und birgt keinen Verlust. Leider steht man sich da oft genug selbst im Weg. Dabei sollte man sich besser regelmäßig darin üben, denn es wirkt befreiend, die Bude zu entrümpeln.

Bruno SchulzComment