"Sensitivity Reader"

Ich frage mich gerade, was einen Menschen dazu bewegen kann anzunehmen, eine Art Universalteststreifen sein zu können für die kunst- und kulturrezipierende Menschheit, vollkommen unabhängig von deren Hintergrund, der Zeitachse und egal in welchem Sujet. Wie kommt man auf die Idee, die eigenen Befindlichkeiten und Maßstäbe auf andere projizieren zu wollen?

Ich erinnere mich sehr gut, wie ich als knapp Achtzehnjähriger das Lichtbilddokument eines ziemlich progressiven Aktionstheaterstücks aus dem losen Wien der Siebzigerjahre als Postkarte umfunktioniert an einen guten Freund schickte. Seine Mutter, Gott hab sie einigermaßen selig, erteilte mir umgehend Hausverbot, weil sie dem Zusteller nun nicht mehr in die Augen sehen könne, der vermutlich schon die ganze Nachbarschaft über mein selbstgebasteltes Zeugnis degoûtanten Hedonismus informiert hatte, mit dem man auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden wollte. Wer also ist nun der Maßstab? Die empfindliche Kettenraucherin mit Sinn für Etikette und locker sitzender Schlaghand in Erziehungsfragen oder meine Wenigkeit, geprägt durch die 68er-Pädagogik und ausgesprochene Weltoffenheit meines Elternhauses? Wo ist denn jetzt richtig?