Der Ziegenmann

Eine FB-Bekannte hat mich auf einen interessanten Artikel aufmerksam gemacht. Sie schreibt: „Als ich das hier gelesen habe, musste ich sofort an dich denken und was wohl deine unterhaltsamen Worte dazu wären. Vielleicht kannst du es verwenden. Alles Gute

Steffi

Hm, mal sehen.

„Mit künstlichen Hufen und einem tragbaren Magen verbringt ein englischer Designer drei Tage in den Schweizer Alpen – als Ziege.“

Ok, jetzt gibt es kein zurück mehr!

Ist das schon die nächste Eskalationsstufe selbstexponierender menschlicher Transformationssehnsucht für den hippen, gelangweilten Trendsetter aus zentraleuropäischen Metropolen?

Wirkt der nur scheinbar romantische Sommer als hart schuftender alpiner Senn für den zivilisationmüden Großstadtneurotiker bereits allzusehr zum Breitensport banalisiert und es muss darum schon eine Auszeit, runtergebrochen auf ein Dasein als die „Kuh des armen Mannes“ sein? Mit oder ohne Melken, scheißegal?

Nach der inzwischen wohl schon zur Gewohnheit verkommenen Teilnahme als Sub am legendären Stutenmarkt im Berghain oder dem „Tag als Fledermaus“ (wer das nicht glauben will, liest einen Aufsatz des Philosophen Thomas Nagel im Sujet)?

Wenn die dreiundsechzig Geschlechter auf Facebook und die Potenziale der kosmetischen, wie textilen und accessoiregetriebenen Eigendekoration nicht mehr ausreichen, seine Egozentrik dezidiert herauszustellen?

Neulich habe ich ein Reel gesehen, in dem ein Typ als leibhaftiger Schneck den Zebrastreifen einer Großstadtstraße zur Hauptverkehrszeit überkroch und mit seiner, in der Natur der Sache liegend, nur mäßig dynamischen Verhaltensauffälligkeit eine Menge und nicht nur staunende Aufmerksamkeit auf sich zog.

Trägt ein solcher Auftritt masochistische Züge, oder ist es ein sadistisches Experiment an der Gesellschaft, einen Zivilisationsbruch zu provozieren und damit das dünne Eis zu vermessen, auf dem wir alle heute wandeln?

Keine Ahnung. Vermutlich interessieren sich diese Leute tatsächlich kaum für andere, außer natürlich für deren Aufmerksamkeit. Wir kennen das vom inflationären Poserposten in den sozialen Medien, wo sich junge Frauen als Duckface und/oder Hissarschaf mit nicht seltem gewaltigem „Kurdjuk“ gerieren und junge Männer als testosterondampfendes, unsinnstammelndes Gummiboot: stabil, Bruda.

Klar, man könnte das alles auch als, zumindest zeitweiligen Eskapismus deklarieren, als Wirklichkeits- und Weltenflucht vor den realen Anforderungen an die eigene Existenz. Eine naive Fortsetzung verklärter kindlicher Identitätssuche. Aber ist es das?

Ich höre sie schon ihren Herr-der-Ringe-Tolkien zitieren mit seinem Plädoyer:

“Why should a man be scorned if, finding himself in prison, he tries to get out and go home? Or if, when he cannot do so, he thinks and talks about other topics than jailers and prison-walls?”

Jaja, die Phantasie. Dabei hat das Fantasy-Genre doch ziemlich wenig genau damit zu tun. Phantasie hat da vor allem der Erzähler und gegebenenfalls sein Team. Das Publikum selbst begibt sich nur zu gerne in die laubgesägte Gedankenwelt des Urhebers und in dessen straff parametriesiertes Reglement mit nicht selten hart autokratischen Strukturen.

So genug gedankenvagabundiert. Wo waren wir? Richtig: Designer macht auf Ziege. Wird Teil einer Herde. Sieht darum auch da bald nur noch Ärsche um sich und vor sich. Arrangiert sich halt. Frisst nicht gleich Scheiße, aber immerhin schon Gras. Muss dem Bock dienen. Wird eigentlich regelmäßig gemolken und irgendwann geschlachtet.

Hey, das ist ja doch irgendwie ziemlich echtes Leben? Naja, je nach Kaste möglicherweise. Zum Glück gibt es zumindest für den privilegierten Designer noch einen Weg zurück. In der Politik ist das ja nicht immer so.

Danke Steffi, passt das so ungefähr?


Bruno SchulzComment