Reversespanner

Vor ein paar Tagen unterhielten wir uns in kleiner Runde und „in echt“ über die verschiedenen Persönlichkeiten, die uns in den sozialen Medien regelmäßig mit ihren Gedanken mal mehr und mal weniger bereichern. Wir fanden für uns heraus, darunter seien starke, authentische Typen, Weiblein wie Männlein, denen man tatsächlich begegnen möchte und auch begegnen kann. Ich selbst habe da schon einige tatsächlich getroffen, die live noch viel besser waren als ihr digitales Abbild. Es gibt auch stille Begleiter, chronisch Unzufriedene, jede Menge Blender, „Dozenten“, Manspreader, Dickpicker, Maulhelden, Fantasieromeos, Trolle und Leute, die einem halt so irgendwie über den Weg laufen: „Hallo, ach ja, auf wiedersehen.“ Schlimm? Ganz und gar nicht. So ist das Leben. Und dann waren da noch die Schlüssellochgucker, die dank Facebook und Co. einen Einblick in das Dasein anderer zu erhaschen hoffen. Westentaschenstalker.

Seltener betrachtet wird ihr exaktes Gegenstück: der „Reversespanner“. „Ach du lieber Himmel, was ist das denn nun schon wieder?“ Nur soviel: „Nix Neues.“ Der Reverse-Spanner sitzt in seiner muffigen kleinen Bude und kennt die Welt nur durch sein eigenes Schlüsselloch als ewiggleichen Blick in den schmalen Flur der eigenen Etage.

Sein Schlüsselloch ist eine Internetverbindung. Dort bezieht er all seine Informationen, derer er sich ausschließlich nach Geschmack bedient, nicht nach realer Erfahrung. Ganz ähnlich Karl May schafelt er vom „wilden Kurdistan“ und kennt dabei nicht einmal die Dönerbude um die Ecke. Reisen, mit echten Menschen sprechen, etwas lesen, erleben und erlernen sind seine Sache nicht. Er erschafft sich seine ganz eigene Welt aus zusammengestümperten Internetzfragmenten.

So entsteht seine subjektive, deformierte Simulation der Welt in tatsächlicher Kenntnislosigkeit der Wirklichkeit. Der Sitzpinkler präsentiert sich als starker Pornohengst, bestärkt und verdichtet durch andere Kadetten auf demselben Kahn, befeuert durch ihren gemeinsamen, verbindenden Wahn. Der Reversespanner glaubt, „seine Fakten“ im Griff zu haben. Da er keine Möglichkeit kennt, seine Quellen auf Validität zu prüfen, also der inhaltlichen Übereinstimmung einer empirischen Messung mit einem logischen Messkonzept, metastasiert seine „Meinung“ zu einem großen, stinkenden Scheißhaufen, deren vermeintlich selbstverständlichen Schutz er regelmäßig rigoros einfordert und dabei nicht verstehen will oder hirnorganisch kann, dass sein Verständnis von Meinungsfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäußerung nichts damit zu tun haben kann, dass andere den Stuss auch widerspruchslos schlucken müssten.

„Die Familie ist mit Recht verstimmt,

wenn Scheiße in der Suppe schwimmt.“

Das macht ihn und seine Gesellen allerdings nur immer wütender in ihrem seltsamen Furor und die Spirale des Schwachsinns dreht sich unaufhaltsam immer schneller. Alle Diskussion bleiben zwecklos. Die Leute sind faktenresistent. Dunning und Kruger lassen unfreundlichst grüßen.

Das alles wäre nicht weiter schlimm, wenn sich nicht noralfreie, kriminelle und demokratiefeindliche Strukturen dieser Dynamik zu bedienen wüssten und darin die willfährigen Megaphone ihrer durchsichtigen infamen, perfiden, niederträchtigen Botschaften fänden: Propagandalautsprecher ihres kruden Populismus.

Was tun? Demaskieren? Meist steht dem die eigene Sozialisierung im Weg und die sympathische, aber absurde Hoffnung, diese Figuren argumentativ doch noch irgendwie erreichen oder einfangen zu können, obwohl jede Debatte in der schalen Erkenntnis mündet, man habe versucht, Pudding an die Wand zu nageln.

Machen wir uns nichts vor: jetzt gilt es, Schaden zu begrenzen. Sich selbst zu schützen, das eigene Zeitkonto von sinnlosen Abbuchungen zu entlasten und zu verhindern, dass sich Wut, Hass und Häme übertragen. Nicht in Kopie, aber in Reaktion. Hören wir auf, uns auf ihre stumpfsinnigen Provokationen einzulassen.

Sie sind nicht schwer zu erkennen. Oft beginnt es mit den nur vermeintlich unauffälligen Hohlformeln: „habt ihr keine anderen Probleme“ oder dem „kehrt erstmal vor der eigenen Tür“, „man darf nichts mehr sagen“ oder Fakten als „deine Meinung“ zu verunglimpfen. Darauf darf man auf keinen Fall einstimmen, denn sie öffnen Tür und Tor zu sinnfreien Traktaten, in denen uns diese Burschen ihr Geschwurbel mit einschlägigen Kanälen belegen wollen, deren Klon sie doch sind. In ihrem Wahn kennen sie keine Gnade.

Lauft so schnell Ihr könnt: „Die Dummheit hat aufgehört sich zu schämen.“ (Heidi Kastner)

Bruno SchulzComment