„Du bist ja bloß neidisch ...“
(Mein Beitrag hat schon einige Zeit suf dem Buckel, aber wenn man die Protagonisten durchtauscht, verteidigt er mühelos seine Aktualität.)
Per allgemeiner Definition beschreibt der Neid die Empfindungen von Menschen, die sich nach den subjektiv vermeintlichen Vorteilen anderer sehnen, wie Besitz, Aussehen, Erfolg, Freundschaften, Fähigkeiten, Sonderrechte und anderer Privilegien, oder denen diese bei eigener Unerreichbarkeit schlicht missgönnen. Der Neid kann als Treibstoff, im Gegensatz zur Missgunst - seinem Superlativ, durchaus positive gesellschaftliche Auswirkungen haben, weil er mitunter eben auch für Entwicklung sorgt.
Neid als Unterstellung ist eine rhetorische Killerphrase. Denn das „argumentum ad invidiam“ sagt in der Regel erheblich mehr über den Scheinargumentierenden aus, als über den Gerüffelten. Das Verhältnis erklärt sich besonders dann schmerzhaft augenfällig, wenn der Gescholtene überhaupt keinen persönlich inhaltlichen Bezug zur Materie hat, der Attestierende aber wie zum Stammtischbeleg seine vorgebliche Sachkenntnistiefe nachschiebt und darin seine eigenen Wertekoordinaten offenbart.
Wenn also zum Beispiel ein führerscheinloser und am Individualverkehr desinteressierter Klimabesorgter verständlicherweise die Sinnhaftigkeit von Supersportwagen hinterfragt und dafür bizarrerweise des Sozialneids bezichtigt wird von einem Petrolhead aus dem zweiten Teil der Fresskette, der ungefragt alle relevanten bis absurden Daten auszustottern bereit ist, ohne die tatsächlichen Objekte seiner Begierde jemals selbst zu erreichen, um damit seinen eigenen, möglicherweise schlichten Wertekompass auszuspielen, was nicht mehr ist, als die banale Erschleichung einer pseudonormativen Position in apodiktischem Vortrag. Ein Vortrag im Modus einer empirischen Behauptung, ohne jedes Angebot zu seiner empirischen Entkräftung, da das Bild in der Vorstellungsverkürzung des Vorwerfenden ja bereits ausgehärtet ist. Er kann sich noch so krümmen, sein Fetisch ist ja völlig legitim, nur muss er ihn nicht unbedingt zum Standard verklären. „Weltmacht mit drei Buchstaben?“ „Ich?“ „Lächerlich!“
In den letzten Tagen wird mein Newsstream von Bezos und Sanchez, dem Königspaar der Kolonialwarenhöker, okkupiert, beziehungsweise der speichelleckerischen Hofberichterstattung, anlässlich ihrer „Prominentenverschmelzung des Jahres“ vor der dekorativen Kulisse Venedigs.
Die lokale Bevölkerung kotzt. Und der geht es nicht um die paar Bellini als Apéritif, 1948 kreiert von Giuseppe Cipriani in der legendären „Harry's Bar“, oder die temporäre Übernahme der Originalschauplätze. Es geht um das Zeichen: eine allem Gemeinsinn entrückte Superelite feiert sich maßlos dekadent selbst für ein paar gefühlige Bildchen in der zweifelsfrei noch immer representativen, aber todgeweihten Serenissima, dem illustren Opfer und urbanen Sinnbild für die Folgen des menschgemachten globalen Klimawandels.
Wie zum Spott kreisen Myriaden von Privatjets, ressourcengierige Genitalprothetik schamfreier Gliedvorzeiger, als Sinnbild der Verantwortung für den Niedergang über der Lagune wie die Fliegen über dem Haufen, während Frank und Brigitte Mustermann ihre Joghurtbecher spült, bevor die in den gelben Sack gesteckt werden und sich die Nutella vom verhärmten Munde abspart, um das Habitat der letzten Orang Utans zu schonen.
„Scheiß drauf“, scheint die Kaste der konjunkturell Unabhängigen statuieren zu wollen und die Braut und Hobbyastronautin Sanchez aka „der Joker“ dauergrient hämisch in die Kameras: „für uns gibt es keine Regeln“, um den Rest des Kuchens auch noch zu beanspruchen.
Da kann man schon mal zucken.
Und spätesten an dieser Stelle entfleucht dem neoliberalen Michel sein reflexhafter Neidvorwurf.
„Nein, du Idiot, mein Leben ist gut und reich und weit wie es ist. Seit bald sechzig Jahren.“ Natürlich hätte man dem einen oder anderen Arschloch nicht begegnen müssen, klar. Die eine oder andere Erfahrung gerne stecken lassen. Aber was bedeutet das schon auf die ganze Strecke? Eben.
So sehr man sich auch immer wieder über den niedlichen Vortrag des Neidargumentes ärgern mag, das Mittel der rhetorisch Unbewaffneten, so dokumentiert es eben auch den Mangel an echten, belastbaren Argumenten und dechiffriert das Plädoyer als sinnfreie Stammtischrechtmeierei. Eine Art Selbstentzauberung. Man kann an diesem Punkt jede Debatte guten Gewissens abbrechen, weil sie eben keine ist. Auch gut, oder?
Allen einen schönen Restsonntag.
Nachtrag: Wer meinen Text halbwegs aufmerksam gelesen hat und sich nicht gleich vom geteilten Motiv verhaften ließ erkannte schnell, dass es eigentlich gar nicht um den „Bezos un sin Fru“ geht, aber um das Abwürgen von Debatten durch Killerphrasen wie das Neidargument, das Argument der Argumentlosigkeit, weil manche dank ihrer Lochfraßagenda keinen Perspektivwechsel mehr wagen (wollen/können). Das bedeutet ja nicht, dass sie nicht zu ihrer Ausgangsposition zurückkehren sollen, aber Diskussionen mit Scheinargumenten per basta und Diskreditierungen abzukürzen bleibt ein seltsames und egozentrisches Missverständnis von Dialogkultur.